Edith Lutz
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Der Durchzug durch das Rote Meer als ein Weg zur Befreiung

 

Dass die biblische Geschichte des Durchzugs der „Kinder Israels“ durch das „Rote Meer“ keine exakten historischen Begebenheiten widerspiegelt, ist nicht erst seit dem Erscheinen des Buches Keine Posaunen vor Jericho (Finkelstein/Silberman) bekannt. Doch konnten die neueren archäologischen Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgestellt werden, die Ansichten derer stärken, die in der Geschichte des Exodus einen Mythos sehen. Mythenforscher weisen darauf hin, dass allen Mythen der Welt eine ähnliche Struktur zugrunde liegt, die sich in etwa folgendermaßen widerspiegelt: An den Mythenhelden ergeht ein Ruf zu einem Aufbruch, dem er folgt. Gewöhnlich wird er zu einer Wanderung aufgerufen. Auf dieser gelangt er bald an eine Schwelle, die er unter dramatischen Herausforderungen passiert. Auf dem Höhepunkt seines Weges, auf dem er Prüfungen bestehen muss, aber auf dem ihm auch Helfer zur Seite stehen, erwartet ihn die Begegnung mit der Gottheit. Von ihr erhält er ein Elixier, das er der Welt nach seiner Rückkehr mitbringt. Für seine Rückkehr muss er abermals eine Schwelle überschreiten. Die Wanderung jenseits der Schwelle stellt sich als eine Wanderung durch das Unbewusste dar.

Die biblische Exodusgeschichte ließe sich als ein solcher Mythos – hier im Diagram nach Campbell - folgendermaßen darstellen (selbstverständlich ist das Diagram nur als Erkenntnishilfe zu verstehen für Vorgänge, die eine grafische Darstellung an sich ausschließen):

 

Dem Ruf aus dem brennenden Dornbusch folgt der Übergang über die Schwelle. Häufig wird im Mythos der Schwellenübergang durch ein Gewässer dargestellt. Im Mythos Exodus stellt die Schwelle das Schilfmeer dar, besser bekannt unter dem Namen „Rotes Meer“. Der hebräische Name für das Schilfmeer, „Jam Suf“, wörtlich ‚Meer des Endes’, verweist deutlich auf den Übergang zu einem neuen Leben. Der Mythenheld lässt die Welt seiner bisherigen Erfahrungen hinter sich. Er durchwandert den ihm unbekannten Bereich des Unbewussten und kehrt nach Passieren der Schwelle gleichwie ein Neugeborener in die alte Welt des Bewusstseins zurück. Das Motiv der Wiedergeburt ist in den kanaanitischen Frühlingsfesten enthalten, die der biblischen Heilsgeschichte als Fundament dienten und in der jüdischen Pessachfeier und dem späteren christlichen Osterfest einen Ausdruck fanden.

Der Bilderreichtum der Mythen, Metaphern, Zahlensymbolik und Wortspiele finden sich auch im Exodus-Mythos, doch werden letztgenannte oft nur aus der Originalsprache erkennbar. So steht das Land Ägypten nicht als geografische Wirklichkeit im Vordergrund (auch wenn ägyptische Eroberungspolitik dem kleinen Landstreifen mitunter hart zusetzte), es ist vielmehr der symbolische Gehalt des Wortes „Mizrajim“, übersetzt ‚Ägypten’, das der Mythos verwendet. Mizrajim ist verwand mit „Mezarim“, ‚Bedrängnisse’ und die Endung „ajim“ als eine Dualendung könnte auf die dualistische materielle Welt verweisen. Denn diese lässt der Mensch zurück, wenn er die Schwelle passiert, vom Bewussten in das Unbewusste, von der materiellen in die geistige Welt, oder auch vom Leben in den Tod. Die im Meer Ertrinkenden, die Ägypter, sind seine Ängste und Bedrängnisse, seine Abhängigkeiten vom Materiellen und - mit Pharao, dem mächtigsten Ägypter, so scheint es, – sein Ego.

Das „Meer des Endes“, das immer zugleich auch einen Neuanfang bedeutet, erscheint in der biblischen Geschichte noch einmal auf einer anderen Erzählebene. Wie die Odyssee (die im gleichen Zeitraum redigiert wurde wie das Buch Exodus) sich in einzelne mythische Geschichten aufteilen lässt, so lässt auch „Exodus“ sich in mehrere Geschichten aufteilen, die mit dem gesamten Zyklus in Verbindung bleiben, die sozusagen einen kleinen mythischen Erzählkreis innerhalb des großen bilden. Eine dieser Geschichten beginnt mit der letzten der zehn Plagen, die uns die Schwelle als die Türschwelle vor Augen führt. Die hinter der Schwelle wohnenden „Ebräer“ – übersetzt die ‚Jenseitigen’ – sterben nicht. Der Todesbote erkennt das Zeichen des Übergangs: das Blut, an die beiden Pfosten und an den Türsturz gestrichen, und zieht vorüber (man beachte die in der Bibel mehrfach anzutreffende Zahlensymbolik der „3“, zusammengesetzt aus der „1“ und der „2“ als dem symbolischen Ort des Zusammentreffens der Einheit mit der Dualität an der Schwelle). In diesem kleinen Erzählkreis bildet das Schilfmeer oder das „Rote Meer“, Jam Suf – das Meer des Endes – die Schwelle zur Rückkehr ins Leben. Der biblische Mythos zeigt eine Austauschbarkeit der Begrifflichkeiten: Anfang und Ende, Leben und Tod. Die materielle Welt der Bedrängnisse und Abhängigkeiten kann die tödliche sein, die geistige Welt die lebendige.

Schon seit längerem unterstreichen Tiefenpsychologen den allegorischen Gehalt dieser Geschichte der Befreiung „aus der Knechtschaft Ägyptens“. Ähnlich den Märchengestalten spiegeln die Handlungsfiguren der biblischen Erzählung Seelenzustände wieder. Die menschliche Seele fürchtet sich vor der Freiheit, dem Neuen; sie hält sich lieber an den sicheren „Fleischtöpfen der Ägypter“ fest. Die Seele mag zaudern wie Pharao, sie will an der gewohnten Materialität und der Macht seines Ichs festhalten und wird doch zum Aufbruch und zur Aufgabe seines Egos gezwungen. Pharao hortet materielle Güter – er baut „Proviantstädte“ – aber er kann ihnen keine geistigen Werte entnehmen und verlangt stattdessen nach mehr. Er wird süchtig nach mehr bis zur Selbstbetäubung– wie der moderne Mensch, sagt der Psychoanalytiker Gabriel Strenger (Universität Jerusalem): „Wir betäuben uns durch Überreizung wie Musik, Fernsehen und Internet, welche uns im Smartphone überallhin begleiten. Dazu kommt eine reiche Palette von Suchtmitteln – von Zigaretten über Alkohol bis zur Esssucht und Drogen aller Art. Der Konsumdrang lenkt uns vom inneren Gefühl der Sinnlosigkeit ab (…) Der ‚Hebräer’ hingegen will Gott in der Wüste dienen – der Geist braucht Ruhe, Zeit und Raum zu spüren“ (Tachles 11/04/2014).

Für eine Änderung seines Lebensstils braucht „Pharao“ die Krise, die sein gewohntes Ordnungsgefüge stufenweise zerstört. Diese Stufen stellen die Zehn Plagen dar, die in gesteigertem Maße seine Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aufdecken, bis der Zusammenbruch mit der letzten Krise, dem Schlagen der Erstgeburt, den Weg frei macht für einen Aufbruch, für eine Neuentwicklung. Auch Pharao zieht aus der Enge Mizrajims und holt die Kinder Israels („Israel“, ‚Gottesstreiter) am Schilfmeer ein (in einer weniger bekannten jüdischen Erzählung sowie im Koran ertrinkt Pharao nicht im Meer, da er Gottes Allmacht einsieht und bereut).

Der das Meer Überschreitende findet zu sich selber, zu seiner Freiheit. Er wird frei von den Abhängigkeiten, von den Mächten, die sein Leben zuvor in der Knechtschaft bestimmten. Er weiß von der Führung durch seinen Gott in der Wolken- und der Feuersäule und steht „ihm Antwort“ durch seine Taten. Er trägt Verantwortung für das Wohl seiner Mitmenschen, für eine ethische Erneuerung der Wirtschaft, für die Gesundung der Natur. Seine Verfolger, die ihm Ängste einjagten, sind im Meer versunken.

 

 

Der Mythische Zirkel in der Literatur

 

- Der Rabbi von Bacherach

- Pictures of Fidelman

- Der Durchzug durch das Rote Meer als ein Weg zur Befreiung

 - Pessach - Die Heilsgeschichte nach dem Mythischen Zirkel

 

 

Das "Lachen" der ungleichen Brüder Jizchak und Ischmael

(zuerst erschienen in Jüdische Zeitung August/September 2014)

 

Jizchak und Jischmael, Söhne Abrahams, Erstgeborene ihrer Mütter, sind ein ungleiches Geschwisterpaar in der biblischen Geschichte. Das Motiv des Lachens verbindet sie – und trennt sie. Jizchak (‚er lacht’) trägt das Lachen in seinem Namen, und Jischmael (‚Gott hört’) lacht. Er lacht und wird für sein Lachen verbannt. 

„Lachen“ hat in biblischen Texten verschiedene Bedeutungen. „Lachen“ kann als Ausdruck reiner Freude oder als „Spottlachen“, der Freude über den Schaden eines Anderen, verstanden werden. Auf einer anderen semantischen Ebene entspricht „Lachen“ einer sexuellen Handlung. Lexika für biblisches Hebräisch übersetzen die Grundform „zachak“ [צחק] mit ‚lachen’, die erweiterte Form „zechak“ mit ‚verstärkt lachen’, ‚spaßen’, ‚scherzen‘‚ liebkosen’ oder auch ‚spielen’. 

Wie ugaritische Texte zeigen, „lachen“ menschliche Gestalten schon in vorbiblischen orientalischen Mythen bei der Verkündung eines Sohnes. In der biblischen Erzählung wird bei der Ankündigung der Geburt Jizchaks viel gelacht: „Abraham fiel auf sein Antlitz und lachte“ (17,17); “Sara dein Weib gebiert dir einen Sohn, seinen Namen sollst du rufen: Jizchak - Er lacht“ (17,19). Sara hört am „Eingang des Zeltes“ die Ankündigung der Geburt ihres Sohnes durch den seltsamen Fremden (18,10) und „lachte in sich hinein“ (18,12). Die Bedeutung des Lachens unterstreicht ein Dialog, in dem Gott fragt: „Warum lacht Sarah“ (18,13). Auf Saras Leugnung „Ich habe nicht gelacht“ (18,15) folgt Gottes Entgegnung, „Nein, wohl hast du gelacht“ (18,16) - alle in der Form „zachak“. 

Mag in dieser Geschichte der Ankündigung die sexuelle Konnotation noch angezweifelt werden, so tritt sie in der Erzählung des mit Rebekka „scherzenden“ Isaaks (21,6) deutlicher zutage. Der Erzählrahmen ist der gleiche wie in einer anderen Erzvater-Geschichte. Wie Abraham, so siedelt auch Jizchak aufgrund einer Hungersnot in Gerar. Wie Abraham seine Frau Sara als Schwester vorstellt, aus Angst, man werde ihn umbringen, so stellt auch Jizchak seine Frau Rebekka als Schwester vor. König des Gastlands ist in beiden Erzählungen ein „Abimelech“. Während Abimelech in der Geschichte Abrahams Sara begehrte und „nahm“, aber sich ihr nicht nahte“ (20, 4), „lugte“ der „Abimelech“ aus der Zeit Jizchaks „durchs Fenster, und sah, da, Jizchak scherzte  mit Ribka seinem Weibe“ (26,8; wörtlich:  „… und sah, da, Jizchak ‚jizchakend’ die Ribka, seine Frau“). 

Die gleiche Verbform „Zachek“, (lachen, scherzen, …), mit der Abimelechs Beobachtung beschrieben wird, verwendet die Frau des Potiphar, als sie in Gegenwart ihres Gesindes Joseph beschuldigt, dass er bei ihr „liegen“ wollte: „Seht, einen hebräischen Mann hat er uns herkommen lassen, dass er sein Spiel mit uns treibe“ (1.Mos 39, 14; in der Übersetzung nach Luther: „Mutwillen treibe“). 

In der Bibel finden sich weitere Stellen, in denen sexuelles Vergnügen mit „lachen, scherzen, spielen, …“ umschrieben wird. Zum Fest des Goldenen Kalbs in der Wüste stand das Volk auf, „um sich zu ergötzen (Luther: „um ihre Lust zu treiben“; 2. Mose 32, 6). Die rabbinische Literatur der ersten nachchristlichen Jahrhunderte setzt „Zachek“ hier, genauso wie in der Geschichte Jischmaels, mit „Götzendienst“ gleich.  Aber handelt es sich jeweils um das gleiche „Spiel“?  Mit welchem „Spiel“ reizt Jischmael seine Herrin Sara dermaßen, dass sie ihn mit seiner Mutter wegschickt? Die Erzählung seiner Vertreibung folgt unmittelbar der Geschichte über die Geburt Jizchaks. In dieser spricht Sara: „Ein Lachen hat Gott mir gemacht“ (21,6); „Jeder, der hört, wird [wörtlich] mir scherzend sein’“ (Buber/Luther: ‚lacht über mich’). Der hebräische Text verwendet den Dativ („mir“) und betont das Hören. Der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo von Alexandrien, der um den Beginn der christlichen Zeitrechnung lebte, übersetzt Saras Aussage: „… wird sich mit mir freuen“. Und er fügt an, „Aber wenn einer die Kraft hat zu hören, dass die Tugend die Seligkeit, den Isaak, geboren hat, so wird er sofort einen Hymnus der Mitfreude anstimmen“ (Allegorischer Kommentar zur Genesis). 

Jischmael trägt das Hören ([שמע] „Schama“) in seinem Namen. Auch er „scherzt“: „Einst sah Sara den Sohn Hagars der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, spottlachen“ (21,9; Luther: „… wie er Mutwillen trieb“). Auch hier steht das hebräische Verb in der Form „zachek“, (lachen, scherzen, …). Thomas Mann lässt seinen Erzähler in Joseph und seine Brüder diese Form aufgreifen. Und es besteht kein Zweifel, was er unter Jischmaels (Ismaels) „Scherzen“ versteht, nachdem er zuvor berichtete, wie Abimelech „durch das Fenster“ Jizchak und Rivka „scherzen“ sah: 

„Schriftlich heißt es von ihm, er sei ein Spötter gewesen, was aber nicht besagen will, dass er ein loses Maul gehabt hätte – es hätte ihn das für die Obersphäre noch nicht untauglich gemacht -, sondern „spotten“ bedeutet in seinem Fall eigentlich „scherzen“, und es begab sich, dass Abram ‚durchs Fenster’ den Ismael auf unterweltliche Weise mit Isaak, seinem jüngeren Halbbruder, scherzen sah, was keineswegs ungefährlich erschien für Jizchak, den wahrhaften Sohn, denn Ismael war schön wie der Sonnenuntergang in der Wüste.“ 

In der biblischen Erzählung fehlt der Hinweis, dass Jischmael mit Jizchak „scherzte“. Jischmael könnte auch mit sich selber „gescherzt“ haben. Ein Vergleich der verschiedenen Bibelstellen, die sexuelle Vorgänge mit dem Wortfeld „Lachen“ beschreiben oder andeuten, lässt vermuten, dass weniger die Partnerwahl fokussiert werden soll als die Art und Weise des Umgangs: wird der Partner als Objekt gebraucht oder als Mensch (und Gottes Ebenbild) - erkannt? Ist Geist beteiligt oder handelt es sich um triebhafte, nur der eigenen Befriedigung dienliche Vorgänge? Mit dieser Unterscheidung findet auch die rabbinische Übertragung von „zachek“ als ‚Götzendienst’ eine Erklärung. Die rabbinische Auslegung findet ihre Spuren noch im Werk des jiddischen Schriftstellers Isaac B. Singer. Er lässt seinen Protagonisten in Jakob der Knecht sagen: „Der Jude fordert das Böse nicht heraus, indem er den Körper verleugnet – er stellt ihn in den Dienst Gottes“. 

Stimmen mehren sich, die fordern, die Bibel in ihrem Symbol- und Bilderreichtum wahrzunehmen. „Mein Glaube an die Thora lässt mich in der Mizraim-Erzählung eine spirituelle Tiefendimension wähnen, die es zu entdecken gilt“, schreibt der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrende Psychoanalytiker Gabriel Strenger („Pharao in der Krise“, Tacheles). „Mizraim“, ‚Ägypten’, ist ein Symbol für die Zweiheit, für ein Leben in der materialistischen Welt. Ägypten ist das Land materieller Versorgung für die Erzväter und ihre Kinder. Jischmael ist durch seine Mutter, der Ägypterin und seine ägyptische Frau mit Ägypten, mit dem Materiellen verbunden. Jischmael wird der „Wilde“ („Wildesel“) genannt, der voller Aktivität im Leben Stehende - der durch das Hören aber dem Geistigen verbunden bleiben kann. Jizchak ist der Passive, dem Geistigen Verpflichtete. Bevor Jizchak mit Rebekka zu Abimelech nach Gerar zieht und dort mit Rebekka „scherzt“, „ließ ER vor ihm sich sehen und sprach: Zieh nimmer hinab nach Ägypten“ (26,2). Und Abimelech wirft Jizchak vor: Was hast du uns da getan? Wie leicht hätte sich einer vom Volk zu deinem Weibe legen können“ (26,10). Jizchak ist demnach derjenige, der eine reine Geistigkeit bewahren muss. Er ist der an den Geist „Gebundene“ (die hebräische Bibel spricht von der „Bindung“, nicht von der „Opferung“ Jizchaks) 

Biblische Gestalten sind Symboldarstellungen seelischer Erfahrungen. Tiefenpsychologen sprechen von der „Bilderwelt der Archetypen“. Auch für den aus chassidischer Weisheit schöpfenden Interpreten Friedrich Weinreb ist der Ort biblischer Entfaltung im Menschen selbst zu finden. Wann immer in der Bibel die Rede ist von Auseinandersetzung, Gewalt und Vertreibung, gilt es, all die Erzählungen als Bilder einer seelischen Auseinandersetzung zu verstehen. Dieser Ansicht ist auch Eugen Drewermann: „Denn damit muß Schluß sein, daß die Bibel immer noch verkommt zur ideologischen Begründung von Blutvergießen, Mord und Gewalt mit göttlicher Legitimation oder in göttlichem Auftrag“ (Den eigenen Weg gehen) 

„Biblische Geschichten“, sagt Martin Buber (Die Schrift und ihre Verdeutschung), „sind nur zum geringen Teil chronikartige Niederschrift, in den meisten lebt noch die aufrufende, zeitverbindende, vorbildweisende oder warnende Stimme der Erzähler“. Wer in den Erzählungen der Erzväter historische Begebenheiten und Personen sieht, auf die er möglicherweise seine eigene Genese zurückführt, läuft Gefahr, einen Chauvinismus zu fördern, der politisch wie sozialpolitisch extrem gefährlich werden kann. Eine Förderung des Verständnisses biblischer Symbolsprache könnte dazu beitragen, nahostpolitische und religionspolitische Konflikte zu lösen. Sie würde auch helfen, individuelles Leben reicher und „heiliger“ zu gestalten, wenn biblische Gestalten wie die ungleichen Brüder im eigenen Wesen wahrgenommen werden. 

 

Der Mythenzirkel nach J. Campbell

 

 

Allen Mythen liegt eine ähnliche Struktur zugrunde, die der Mythenforscher Joseph Campbell in einem Diagramm gezeichnet hat. An den Mythenheld ergeht ein Ruf zu einer abenteuerlichen Reise. Er gelangt zu einer Schwelle, die er unter Bewältigung von Gefahren und Hindernissen überqueren muss. Oft findet ein Kampf an der Schwelle statt oder eine nächtliche Seefahrt, eine Reise im Bauch des Fisches, eine Kreuzigung, ... .Unter Prüfungen und mit Hilfe gelangt er zum Nadir des mythischen Zirkels, wo er eine schwere Prüfung zu bestehen hat.

"Der Triumph kann sich darstellen als sexuelle Vereinigung mit der göttlichen Weltmutter (heilige Hochzeit), seine Anerkennung durch den Schöpfervater (Versöhnung mit dem Vater), Vergöttlichung des Helden selbst (Apotheose)". Seinem Wesen nach handelt es sich um eine Ausweitung des Bewusstseins. Bei der Rückkehr müssen die transzendenten Kräfte an der Schwelle zurückbleiben. Aber er bringt ein Elixier mit, der Welt zum Heil.

Der mythisch Reisende muss in eine Welt zurückfinden, "wo Menschen, die nur noch Fragmente des Menschen sind, sich vollkommen glauben."

(nach Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, suhrkamp, 1978)

 

Isaaks Hunger und Isaaks Reichtum

- eine Interpretation zu Genesis 26 -

(zuerst erschienen in Die Christengemeinschaft. Zeitschrift zur religiösen Erneuerung 9/2014)

„Geist-Erkenntnis ist die wichtigste Nahrung“, erklärt Friedel Lenz in ihrer Auslegung zu „Hänsel und Gretel“ (Bildsprache der Märchen). Aber was haben Hänsel und Gretel aus dem Grimmschen Märchen mit dem biblischen Isaak zu tun? Die Bibel ein Märchen?

 Die Bibel ist kein Märchen, aber sie enthält Märchen. Nach einer langen Epoche rationaler Bibelauslegung und der Erforschung der Bibel nach fast ausschließlich historischen und geografischen Gesichtspunkten war der protestantische Theologe Hermann Gunkel einer der ersten, der sich dem Märchen in der Bibel widmete. Aber man muss nicht sein Werk, Das Märchen im Alten Testament (1917), gelesen haben, um Märchenstoffe in der Bibel zu entdecken. Besonders das Buch Genesis ist sehr reich an Märchenstoffen. Wie kann man sie wahrnehmen? Indem man versucht, Erzählungen, besonders solche, die grausam, zweifelhaft, widersprüchlich anmuten, als ein Bild aufzufassen. Die Märchen erzählen in einer Bildsprache, sie „malen“ ihre „Mär“, ihre ‚Kunde’, in Worten. Zum Auffinden eines Märchenstoffes oder mythischen Erzählguts (um den Gattungsbegriff beiseitezulassen) ist das Erkennen von Symbolen wichtig, wie beispielsweise das „Brot“, nach allgemeinem Symbolverständnis ein Sinnbild geistiger Nahrung, oder die „Hungersnot“ als ein Zeichen fehlender Geistesverbindung.

Dem Bibelleser der deutschen Übersetzung sind für das Erkennen von Bildern und Symbole Grenzen gesetzt. Hebräische Wortspiele, Symbole oder die Bedeutung von Eigennamen sind oft nicht übersetzbar. Der im Titel genannte Isaak heißt im hebräischen Originaltext „Jizchak“, wörtlich ins Deutsche übertragen, ‚Er lacht’. Sein Gesprächspartner in der Genesisgeschichte (26) ist Abimelech, wörtlich, ‚mein Vater ist König’. Diese Namensgebungen allein lassen mehrere Interpretationsmöglichkeiten außerhalb eines historischen Rahmens erahnen. Aber auch der des Hebräischen Unkundige kann an einer bildhaften Vermittlung teilhaben, wenn er bereit ist, die Erzählung als Bild zu betrachten. „Jedes Märchen gleicht einem kleinen Drama, das auf unserer inneren Bühne spielt. Seine menschlichen Gestalten sind Personifikationen der seelisch-geistigen Kräfte“ (Lenz). Nicht anders verhält es sich in dem biblischen „kleinen Drama“. Biblische Gestalten sind Symboldarstellungen seelischer Erfahrungen. Tiefenpsychologen sprechen von der „Bilderwelt der Archetypen. Auch für den aus chassidischer Weisheit schöpfenden Interpreten Friedrich Weinreb ist der Ort biblischer Entfaltung im Menschen selbst zu finden. Abschließend zur Einleitung soll mit Martin Buber festgehalten werden, „Biblische Geschichten sind nur zum geringen Teil chronikartige Niederschrift, in den meisten lebt noch die aufrufende, zeitverbindende, vorbildweisende oder warnende Stimme der Erzähler“ (Die Schrift und ihre Verdeutschung).  Die folgende Interpretation ist selbstverständlich nur eine von vielen möglichen.

„Eine Hungersnot war im Land, eine andre als die frühere Hungersnot, die in Abrahams Tagen war, und Jizchak ging zu Abimelech, König der Philister, nach Grar. Hier ließ ER vor ihm sich sehen und sprach: Zieh nimmer hinab nach Ägypten, wohne in dem Land, das ich dir nun zuspreche, gaste in diesem Land, und ich will dasein bei dir und dich segnen, denn dir und deinem Samen gebe ich all diese Erdlande“(1-3; alle Zitate nach Buber).

Eine wörtliche Auslegung national-israelitischer Prägung sieht die Landverheißung als eine göttliche Zuteilung des geografischen Landes an einen historischen Isaak und seine Nachkommen an. Die politische Brisanz, die sich aus einer solchen Ansicht ergeben kann, wird uns von fundamentalistischen israelischen Siedlern vor Augen geführt, die sich auf solche biblischen Landverheißungen berufen. Allerdings ist ein König Abimelech, dem der Bibelleser in einer ähnlichen Geschichte mit dem Erzvater Abraham begegnet, als König der Philister (Namensgeber der Palästinenser) historisch unbekannt und für eine allegorische Auslegung spielt die Historizität ohnehin keine Rolle. Das „Land der Philister“ ist ein Land, in dem Israels biblische Feinde leben, aber das wird in dieser Geschichte nicht mitgeteilt. Es ist nicht das Land der Unterdrückung, nicht „Ägypten“ (s. „Der Durchzug durch das Rote Meer“, Die Christengemeinschaft, Juli 14). Es scheint, als würde bei den Philistern ganz gewöhnlich gelebt, geliebt, gestritten. Nahrung für den Körper ist reichlich vorhanden. Mit der Geistesnahrung scheint es schlechter bestellt, und doch findet Isaak sie gerade dort. Dieses Land hat einen König, „Abimelech“, ‚Mein-Vater-ist-König’. In der Märchensymbolik deutet der „Beruf“ des Königs an, dass eine Höchststufe der inneren Entwicklung erreicht ist, der Vater versinnbildlicht den alten ursprünglichen Menschen, das Selbst (Lenz). Abimelech ist fest verwurzelt in der diesseitigen Verstandeswelt, aber die geistige und seelische Welt ist ihm nahe. Er tritt in der Genesisgeschichte als Mittlerfigur zwischen der Welt der reinen Materie und der Welt des Geistes auf.

Jizchak säte in jenem Land und erntete in jenem Jahr hundert Maße, so segnete ER ihn. Groß wurde der Mann und fortgehend größer, bis er übergroß war (…) und die Philister neideten ihn. Alle Brunnen, die seines Vaters Knechte in Abrahams seines Vaters Tagen gegraben hatten, verstopften die Philister und füllten sie mit Schutt (12-14).

Dem hebräischen Text liegt ein Wortspiel inne, das in der Übersetzung verloren geht: „Hundert Maße“ ‚Mea Schearim’ (wie das bekannte Viertel in Jerusalem), bedeutet auch „Hundert Tore“. Ein Tor kann ein Sinnbild des Übergangs sein, vom Diesseits ins Jenseits, von einem profanen in einen heiligen Bereich. Die Symbolik der Zahl hundert (auch Isaaks Vater war „hundert“, als er geboren wurde) und die ungewöhnliche Steigerung des Wortes „groß“ lassen erahnen, dass der Reichtum, den Isaak fand, nicht nur materieller Art war. Im Originaltext „findet“ Isaak „hundert Maße“ – geistige Schätze sind nicht planbar. 

Als ein Sinnbild des Übergangs können auch die Brunnen im Philisterland verstanden werden. Sie führen von der Bewusstheit in die Tiefen des Unbewussten. Wer aus ihnen schöpft, bedient sich geistiger Kräfte, die ihn seelisch erstarken lassen. Die im Materiellen lebenden Philister wissen keine Brunnen zu errichten, die in geistige Tiefen führen. Sie beneiden den aus dem Geist Schöpfenden und versiegen den Zugang zu geistigen Verbindungen mit ihrem materiellen Schutt. Isaak wird angewiesen, die Philister zu verlassen, denn er ist ihnen überstark geworden (16).  

So ging Jizchak von dort, er lagerte im Talgrund von Grar und siedelte dort. (…) Auch gruben Jizchaks Knechte im Talgrund und fanden dort einen Brunnen lebendigen Wassers. Die Hirten von Grar aber stritten mit den Hirten Jizchaks, sprechend: Unser ist das Wasser!  

Es ist der uralte Streit zwischen dem der hat und dem, der nicht hat, der in der Bibel mehrfach als Bruderstreit dokumentiert ist. Auch die Knechte sind im Sinne des Berufsstands verwandt. Dabei ist der geografische Ort des Zwists nebensächlich. Ein Ort namens Grar hat zwar nachweislich existiert, doch sind biblische Ortsnamen und deren geografische Lage nicht selten symbolisch zu verstehen. In „Gerar“ (im Originaltext mit flüchtigem ‚e’, Betonung auf der zweiten Silbe) steckt das Wort „Ger“, ‚Fremdling“. Sowohl Isaak wie sein Vater Abraham waren Fremde in Grar. Isaak verlässt die Ortschaft Grar auch nicht wirklich, im geografischen Sinne, wie man nach seiner Ausweisung vermuten würde, er lagert „im Talgrund“. Ein Tal ist im Gegensatz zum Berg ein „Symbol für Abstieg und Tiefe, im negativen Sinne als geistig-seelische Verlustsituation“ (Herder Lexikon Symbole). Daher wundert es nicht, dass im Talgrund Streit ausbricht. Im Talgrund der Seele jedoch findet der Nomade Isaak das Gleiche, was er auch als „Bauer“ nach seiner Saat „fand“: es sind geistige Schätze, die Isaak erntet oder schöpft. Hier im Talgrund dringt er bis zur geistigen Quelle vor, er schöpft „lebendiges Wasser“. 

Die Quelle, ein Sinnbild fruchtbaren Überflusses (Herder), wird von „Menschen der Materie“ (den „Philistern“) nicht als Ursprung lebensspendender Kräfte erkannt. Sie bilden sich ein, selber zu schaffen: Unser ist das Wasser! Geist und Materie scheinen im Talgrund von Grar unversöhnlich. 

So rief er den Namen des Brunnens Essek, Hader, weil sie mit ihm gehadert hatten. Und sie gruben einen anderen Brunnen, und auch um den stritten sie, so rief er seinen Namen Ssitna, Fehde. Er rückte von dort weiter und grub einen andern Brunnen, um den stritten sie nicht mehr, so rief er seinen Namen Rechobot, Weite. (…) Von dort stieg er auf nach Beerscheba (21-22). 

Martin Buber, der sich in seiner Bibelübersetzung im Allgemeinen streng an den hebräischen Originaltext hielt, wich auch hier mit der Bezeichnung des zweiten Brunnens von diesem Prinzip etwas ab: „Ssitna“ ist die ‚Anklage’. Darin steckt das bekannte Wort „Ssatan“, ‚Widersacher’, ‚Ankläger’, - ‚Satan’. Es findet hier am zweiten Brunnen zweifellos eine Steigerung des Seelendramas statt. Mit dem dritten Brunnen kommt die Rettung. Die „Drei“, ein Sinnbild der Vermittlung (Herder), begegnet im Märchen häufig als Anzahl zu bestehender Prüfungen oder zu lösender Rätsel. Isaak fand die richtige Lösung: er rückte von dort weiter. Der Name des Brunnens, „Weite“ deutet an: Er hat sich einer geistigen Weite genähert. Materie und Geist liegen hier nicht mehr im Streit. Mit ihrer „Gleichgewichtigkeit“ findet Isaak den seelischen Ausgleich. Aus dieser Harmonie ist es leicht, nach Beerscheba „aufzusteigen“.

„Sheva“, ‚sieben’, gilt von alters her als heilige Zahl und ist Sinnbild für Vollendung, der Fülle und der Vollständigkeit (Herder). Beerscheba, ‚der Brunnen der Sieben’, ist der Ort, an dem Isaak, wie schon sein Vater Abraham, Frieden findet.  

Das Motiv des Abstiegs und Aufstiegs in Verbindung mit einem Brunnen ist ein bekanntes Märchenmotiv (s. Frau Holle). Das Märchen in der Bibel trennt den Aufstieg seiner Märchenfigur in die geistige Welt nie vollständig von seiner Verankerung in der alltäglichen Welt der Materie. Hebräische Märchenhelden feiern keine mystische Hochzeit, sie lösen ihr Ich nicht auf. Stattdessen schließen Ich und Du einen Bund miteinander, wie Isaak und Abimelech. Abimelech bringt zu diesem Bundesschluss seine Begleiter, Symbolfiguren der materiellen Welt mit: Achusat (‚Landbesitz’) und Pichol (‚Mund aller’), seinen Heeresobersten.  

(Isaak) machte ihnen ein Trinkmahl, sie aßen und tranken. Frühmorgens standen sie auf und schwuren einander (30-31) 

„Schwören“ ist wortverwandt mit „sieben“, scheva’. Als die Knechte Isaak melden, dass sie Wasser „gefunden“ haben, nennt er diesen Brunnen Schwur-Sieben (33) Das Erlebnis der Einheit, die Besiegelung des Bundes, wird so doppelt unterstrichen. 

Dann schickte Jizchak sie heim, und sie gingen von ihm in Frieden.

Frieden ist möglich.

 

 

  1. Die Taktik des Schlamassel oder Defending the Holy Land
  2. Die Geschichte vom neuen Antisemitismus
  3. Mit Macbeth in den Untergang
  4. Das Bar Kochba-Syndrom

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