(zuerst erschienen in Jüdische Zeitung August/September 2014)
Jizchak und Jischmael, Söhne Abrahams, Erstgeborene ihrer Mütter, sind ein ungleiches Geschwisterpaar in der biblischen Geschichte. Das Motiv des Lachens verbindet sie – und trennt sie. Jizchak (‚er lacht’) trägt das Lachen in seinem Namen, und Jischmael (‚Gott hört’) lacht. Er lacht und wird für sein Lachen verbannt.
„Lachen“ hat in biblischen Texten verschiedene Bedeutungen. „Lachen“ kann als Ausdruck reiner Freude oder als „Spottlachen“, der Freude über den Schaden eines Anderen, verstanden werden. Auf einer anderen semantischen Ebene entspricht „Lachen“ einer sexuellen Handlung. Lexika für biblisches Hebräisch übersetzen die Grundform „zachak“ [צחק] mit ‚lachen’, die erweiterte Form „zechak“ mit ‚verstärkt lachen’, ‚spaßen’, ‚scherzen‘‚ liebkosen’ oder auch ‚spielen’.
Wie ugaritische Texte zeigen, „lachen“ menschliche Gestalten schon in vorbiblischen orientalischen Mythen bei der Verkündung eines Sohnes. In der biblischen Erzählung wird bei der Ankündigung der Geburt Jizchaks viel gelacht: „Abraham fiel auf sein Antlitz und lachte“ (17,17); “Sara dein Weib gebiert dir einen Sohn, seinen Namen sollst du rufen: Jizchak - Er lacht“ (17,19). Sara hört am „Eingang des Zeltes“ die Ankündigung der Geburt ihres Sohnes durch den seltsamen Fremden (18,10) und „lachte in sich hinein“ (18,12). Die Bedeutung des Lachens unterstreicht ein Dialog, in dem Gott fragt: „Warum lacht Sarah“ (18,13). Auf Saras Leugnung „Ich habe nicht gelacht“ (18,15) folgt Gottes Entgegnung, „Nein, wohl hast du gelacht“ (18,16) - alle in der Form „zachak“.
Mag in dieser Geschichte der Ankündigung die sexuelle Konnotation noch angezweifelt werden, so tritt sie in der Erzählung des mit Rebekka „scherzenden“ Isaaks (21,6) deutlicher zutage. Der Erzählrahmen ist der gleiche wie in einer anderen Erzvater-Geschichte. Wie Abraham, so siedelt auch Jizchak aufgrund einer Hungersnot in Gerar. Wie Abraham seine Frau Sara als Schwester vorstellt, aus Angst, man werde ihn umbringen, so stellt auch Jizchak seine Frau Rebekka als Schwester vor. König des Gastlands ist in beiden Erzählungen ein „Abimelech“. Während Abimelech in der Geschichte Abrahams Sara begehrte und „nahm“, aber sich ihr nicht nahte“ (20, 4), „lugte“ der „Abimelech“ aus der Zeit Jizchaks „durchs Fenster, und sah, da, Jizchak scherzte mit Ribka seinem Weibe“ (26,8; wörtlich: „… und sah, da, Jizchak ‚jizchakend’ die Ribka, seine Frau“).
Die gleiche Verbform „Zachek“, (lachen, scherzen, …), mit der Abimelechs Beobachtung beschrieben wird, verwendet die Frau des Potiphar, als sie in Gegenwart ihres Gesindes Joseph beschuldigt, dass er bei ihr „liegen“ wollte: „Seht, einen hebräischen Mann hat er uns herkommen lassen, dass er sein Spiel mit uns treibe“ (1.Mos 39, 14; in der Übersetzung nach Luther: „Mutwillen treibe“).
In der Bibel finden sich weitere Stellen, in denen sexuelles Vergnügen mit „lachen, scherzen, spielen, …“ umschrieben wird. Zum Fest des Goldenen Kalbs in der Wüste stand das Volk auf, „um sich zu ergötzen (Luther: „um ihre Lust zu treiben“; 2. Mose 32, 6). Die rabbinische Literatur der ersten nachchristlichen Jahrhunderte setzt „Zachek“ hier, genauso wie in der Geschichte Jischmaels, mit „Götzendienst“ gleich. Aber handelt es sich jeweils um das gleiche „Spiel“? Mit welchem „Spiel“ reizt Jischmael seine Herrin Sara dermaßen, dass sie ihn mit seiner Mutter wegschickt? Die Erzählung seiner Vertreibung folgt unmittelbar der Geschichte über die Geburt Jizchaks. In dieser spricht Sara: „Ein Lachen hat Gott mir gemacht“ (21,6); „Jeder, der hört, wird [wörtlich] mir scherzend sein’“ (Buber/Luther: ‚lacht über mich’). Der hebräische Text verwendet den Dativ („mir“) und betont das Hören. Der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo von Alexandrien, der um den Beginn der christlichen Zeitrechnung lebte, übersetzt Saras Aussage: „… wird sich mit mir freuen“. Und er fügt an, „Aber wenn einer die Kraft hat zu hören, dass die Tugend die Seligkeit, den Isaak, geboren hat, so wird er sofort einen Hymnus der Mitfreude anstimmen“ (Allegorischer Kommentar zur Genesis).
Jischmael trägt das Hören ([שמע] „Schama“) in seinem Namen. Auch er „scherzt“: „Einst sah Sara den Sohn Hagars der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, spottlachen“ (21,9; Luther: „… wie er Mutwillen trieb“). Auch hier steht das hebräische Verb in der Form „zachek“, (lachen, scherzen, …). Thomas Mann lässt seinen Erzähler in Joseph und seine Brüder diese Form aufgreifen. Und es besteht kein Zweifel, was er unter Jischmaels (Ismaels) „Scherzen“ versteht, nachdem er zuvor berichtete, wie Abimelech „durch das Fenster“ Jizchak und Rivka „scherzen“ sah:
„Schriftlich heißt es von ihm, er sei ein Spötter gewesen, was aber nicht besagen will, dass er ein loses Maul gehabt hätte – es hätte ihn das für die Obersphäre noch nicht untauglich gemacht -, sondern „spotten“ bedeutet in seinem Fall eigentlich „scherzen“, und es begab sich, dass Abram ‚durchs Fenster’ den Ismael auf unterweltliche Weise mit Isaak, seinem jüngeren Halbbruder, scherzen sah, was keineswegs ungefährlich erschien für Jizchak, den wahrhaften Sohn, denn Ismael war schön wie der Sonnenuntergang in der Wüste.“
In der biblischen Erzählung fehlt der Hinweis, dass Jischmael mit Jizchak „scherzte“. Jischmael könnte auch mit sich selber „gescherzt“ haben. Ein Vergleich der verschiedenen Bibelstellen, die sexuelle Vorgänge mit dem Wortfeld „Lachen“ beschreiben oder andeuten, lässt vermuten, dass weniger die Partnerwahl fokussiert werden soll als die Art und Weise des Umgangs: wird der Partner als Objekt gebraucht oder als Mensch (und Gottes Ebenbild) - erkannt? Ist Geist beteiligt oder handelt es sich um triebhafte, nur der eigenen Befriedigung dienliche Vorgänge? Mit dieser Unterscheidung findet auch die rabbinische Übertragung von „zachek“ als ‚Götzendienst’ eine Erklärung. Die rabbinische Auslegung findet ihre Spuren noch im Werk des jiddischen Schriftstellers Isaac B. Singer. Er lässt seinen Protagonisten in Jakob der Knecht sagen: „Der Jude fordert das Böse nicht heraus, indem er den Körper verleugnet – er stellt ihn in den Dienst Gottes“.
Stimmen mehren sich, die fordern, die Bibel in ihrem Symbol- und Bilderreichtum wahrzunehmen. „Mein Glaube an die Thora lässt mich in der Mizraim-Erzählung eine spirituelle Tiefendimension wähnen, die es zu entdecken gilt“, schreibt der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrende Psychoanalytiker Gabriel Strenger („Pharao in der Krise“, Tacheles). „Mizraim“, ‚Ägypten’, ist ein Symbol für die Zweiheit, für ein Leben in der materialistischen Welt. Ägypten ist das Land materieller Versorgung für die Erzväter und ihre Kinder. Jischmael ist durch seine Mutter, der Ägypterin und seine ägyptische Frau mit Ägypten, mit dem Materiellen verbunden. Jischmael wird der „Wilde“ („Wildesel“) genannt, der voller Aktivität im Leben Stehende - der durch das Hören aber dem Geistigen verbunden bleiben kann. Jizchak ist der Passive, dem Geistigen Verpflichtete. Bevor Jizchak mit Rebekka zu Abimelech nach Gerar zieht und dort mit Rebekka „scherzt“, „ließ ER vor ihm sich sehen und sprach: Zieh nimmer hinab nach Ägypten“ (26,2). Und Abimelech wirft Jizchak vor: Was hast du uns da getan? Wie leicht hätte sich einer vom Volk zu deinem Weibe legen können“ (26,10). Jizchak ist demnach derjenige, der eine reine Geistigkeit bewahren muss. Er ist der an den Geist „Gebundene“ (die hebräische Bibel spricht von der „Bindung“, nicht von der „Opferung“ Jizchaks)
Biblische Gestalten sind Symboldarstellungen seelischer Erfahrungen. Tiefenpsychologen sprechen von der „Bilderwelt der Archetypen“. Auch für den aus chassidischer Weisheit schöpfenden Interpreten Friedrich Weinreb ist der Ort biblischer Entfaltung im Menschen selbst zu finden. Wann immer in der Bibel die Rede ist von Auseinandersetzung, Gewalt und Vertreibung, gilt es, all die Erzählungen als Bilder einer seelischen Auseinandersetzung zu verstehen. Dieser Ansicht ist auch Eugen Drewermann: „Denn damit muß Schluß sein, daß die Bibel immer noch verkommt zur ideologischen Begründung von Blutvergießen, Mord und Gewalt mit göttlicher Legitimation oder in göttlichem Auftrag“ (Den eigenen Weg gehen)
„Biblische Geschichten“, sagt Martin Buber (Die Schrift und ihre Verdeutschung), „sind nur zum geringen Teil chronikartige Niederschrift, in den meisten lebt noch die aufrufende, zeitverbindende, vorbildweisende oder warnende Stimme der Erzähler“. Wer in den Erzählungen der Erzväter historische Begebenheiten und Personen sieht, auf die er möglicherweise seine eigene Genese zurückführt, läuft Gefahr, einen Chauvinismus zu fördern, der politisch wie sozialpolitisch extrem gefährlich werden kann. Eine Förderung des Verständnisses biblischer Symbolsprache könnte dazu beitragen, nahostpolitische und religionspolitische Konflikte zu lösen. Sie würde auch helfen, individuelles Leben reicher und „heiliger“ zu gestalten, wenn biblische Gestalten wie die ungleichen Brüder im eigenen Wesen wahrgenommen werden.
Allen Mythen liegt eine ähnliche Struktur zugrunde, die der Mythenforscher Joseph Campbell in einem Diagramm gezeichnet hat. An den Mythenheld ergeht ein Ruf zu einer abenteuerlichen Reise. Er gelangt zu einer Schwelle, die er unter Bewältigung von Gefahren und Hindernissen überqueren muss. Oft findet ein Kampf an der Schwelle statt oder eine nächtliche Seefahrt, eine Reise im Bauch des Fisches, eine Kreuzigung, ... .Unter Prüfungen und mit Hilfe gelangt er zum Nadir des mythischen Zirkels, wo er eine schwere Prüfung zu bestehen hat.
"Der Triumph kann sich darstellen als sexuelle Vereinigung mit der göttlichen Weltmutter (heilige Hochzeit), seine Anerkennung durch den Schöpfervater (Versöhnung mit dem Vater), Vergöttlichung des Helden selbst (Apotheose)". Seinem Wesen nach handelt es sich um eine Ausweitung des Bewusstseins. Bei der Rückkehr müssen die transzendenten Kräfte an der Schwelle zurückbleiben. Aber er bringt ein Elixier mit, der Welt zum Heil.
Der mythisch Reisende muss in eine Welt zurückfinden, "wo Menschen, die nur noch Fragmente des Menschen sind, sich vollkommen glauben."
- eine Interpretation zu Genesis 26 -
(zuerst erschienen in Die Christengemeinschaft. Zeitschrift zur religiösen Erneuerung 9/2014)
„Geist-Erkenntnis ist die wichtigste Nahrung“, erklärt Friedel Lenz in ihrer Auslegung zu „Hänsel und Gretel“ (Bildsprache der Märchen). Aber was haben Hänsel und Gretel aus dem Grimmschen Märchen mit dem biblischen Isaak zu tun? Die Bibel ein Märchen?
Die Bibel ist kein Märchen, aber sie enthält Märchen. Nach einer langen Epoche rationaler Bibelauslegung und der Erforschung der Bibel nach fast ausschließlich historischen und geografischen Gesichtspunkten war der protestantische Theologe Hermann Gunkel einer der ersten, der sich dem Märchen in der Bibel widmete. Aber man muss nicht sein Werk, Das Märchen im Alten Testament (1917), gelesen haben, um Märchenstoffe in der Bibel zu entdecken. Besonders das Buch Genesis ist sehr reich an Märchenstoffen. Wie kann man sie wahrnehmen? Indem man versucht, Erzählungen, besonders solche, die grausam, zweifelhaft, widersprüchlich anmuten, als ein Bild aufzufassen. Die Märchen erzählen in einer Bildsprache, sie „malen“ ihre „Mär“, ihre ‚Kunde’, in Worten. Zum Auffinden eines Märchenstoffes oder mythischen Erzählguts (um den Gattungsbegriff beiseitezulassen) ist das Erkennen von Symbolen wichtig, wie beispielsweise das „Brot“, nach allgemeinem Symbolverständnis ein Sinnbild geistiger Nahrung, oder die „Hungersnot“ als ein Zeichen fehlender Geistesverbindung.
Dem Bibelleser der deutschen Übersetzung sind für das Erkennen von Bildern und Symbole Grenzen gesetzt. Hebräische Wortspiele, Symbole oder die Bedeutung von Eigennamen sind oft nicht übersetzbar. Der im Titel genannte Isaak heißt im hebräischen Originaltext „Jizchak“, wörtlich ins Deutsche übertragen, ‚Er lacht’. Sein Gesprächspartner in der Genesisgeschichte (26) ist Abimelech, wörtlich, ‚mein Vater ist König’. Diese Namensgebungen allein lassen mehrere Interpretationsmöglichkeiten außerhalb eines historischen Rahmens erahnen. Aber auch der des Hebräischen Unkundige kann an einer bildhaften Vermittlung teilhaben, wenn er bereit ist, die Erzählung als Bild zu betrachten. „Jedes Märchen gleicht einem kleinen Drama, das auf unserer inneren Bühne spielt. Seine menschlichen Gestalten sind Personifikationen der seelisch-geistigen Kräfte“ (Lenz). Nicht anders verhält es sich in dem biblischen „kleinen Drama“. Biblische Gestalten sind Symboldarstellungen seelischer Erfahrungen. Tiefenpsychologen sprechen von der „Bilderwelt der Archetypen. Auch für den aus chassidischer Weisheit schöpfenden Interpreten Friedrich Weinreb ist der Ort biblischer Entfaltung im Menschen selbst zu finden. Abschließend zur Einleitung soll mit Martin Buber festgehalten werden, „Biblische Geschichten sind nur zum geringen Teil chronikartige Niederschrift, in den meisten lebt noch die aufrufende, zeitverbindende, vorbildweisende oder warnende Stimme der Erzähler“ (Die Schrift und ihre Verdeutschung). Die folgende Interpretation ist selbstverständlich nur eine von vielen möglichen.
„Eine Hungersnot war im Land, eine andre als die frühere Hungersnot, die in Abrahams Tagen war, und Jizchak ging zu Abimelech, König der Philister, nach Grar. Hier ließ ER vor ihm sich sehen und sprach: Zieh nimmer hinab nach Ägypten, wohne in dem Land, das ich dir nun zuspreche, gaste in diesem Land, und ich will dasein bei dir und dich segnen, denn dir und deinem Samen gebe ich all diese Erdlande“(1-3; alle Zitate nach Buber).
Eine wörtliche Auslegung national-israelitischer Prägung sieht die Landverheißung als eine göttliche Zuteilung des geografischen Landes an einen historischen Isaak und seine Nachkommen an. Die politische Brisanz, die sich aus einer solchen Ansicht ergeben kann, wird uns von fundamentalistischen israelischen Siedlern vor Augen geführt, die sich auf solche biblischen Landverheißungen berufen. Allerdings ist ein König Abimelech, dem der Bibelleser in einer ähnlichen Geschichte mit dem Erzvater Abraham begegnet, als König der Philister (Namensgeber der Palästinenser) historisch unbekannt und für eine allegorische Auslegung spielt die Historizität ohnehin keine Rolle. Das „Land der Philister“ ist ein Land, in dem Israels biblische Feinde leben, aber das wird in dieser Geschichte nicht mitgeteilt. Es ist nicht das Land der Unterdrückung, nicht „Ägypten“ (s. „Der Durchzug durch das Rote Meer“, Die Christengemeinschaft, Juli 14). Es scheint, als würde bei den Philistern ganz gewöhnlich gelebt, geliebt, gestritten. Nahrung für den Körper ist reichlich vorhanden. Mit der Geistesnahrung scheint es schlechter bestellt, und doch findet Isaak sie gerade dort. Dieses Land hat einen König, „Abimelech“, ‚Mein-Vater-ist-König’. In der Märchensymbolik deutet der „Beruf“ des Königs an, dass eine Höchststufe der inneren Entwicklung erreicht ist, der Vater versinnbildlicht den alten ursprünglichen Menschen, das Selbst (Lenz). Abimelech ist fest verwurzelt in der diesseitigen Verstandeswelt, aber die geistige und seelische Welt ist ihm nahe. Er tritt in der Genesisgeschichte als Mittlerfigur zwischen der Welt der reinen Materie und der Welt des Geistes auf.
Jizchak säte in jenem Land und erntete in jenem Jahr hundert Maße, so segnete ER ihn. Groß wurde der Mann und fortgehend größer, bis er übergroß war (…) und die Philister neideten ihn. Alle Brunnen, die seines Vaters Knechte in Abrahams seines Vaters Tagen gegraben hatten, verstopften die Philister und füllten sie mit Schutt (12-14).
Dem hebräischen Text liegt ein Wortspiel inne, das in der Übersetzung verloren geht: „Hundert Maße“ ‚Mea Schearim’ (wie das bekannte Viertel in Jerusalem), bedeutet auch „Hundert Tore“. Ein Tor kann ein Sinnbild des Übergangs sein, vom Diesseits ins Jenseits, von einem profanen in einen heiligen Bereich. Die Symbolik der Zahl hundert (auch Isaaks Vater war „hundert“, als er geboren wurde) und die ungewöhnliche Steigerung des Wortes „groß“ lassen erahnen, dass der Reichtum, den Isaak fand, nicht nur materieller Art war. Im Originaltext „findet“ Isaak „hundert Maße“ – geistige Schätze sind nicht planbar.
Als ein Sinnbild des Übergangs können auch die Brunnen im Philisterland verstanden werden. Sie führen von der Bewusstheit in die Tiefen des Unbewussten. Wer aus ihnen schöpft, bedient sich geistiger Kräfte, die ihn seelisch erstarken lassen. Die im Materiellen lebenden Philister wissen keine Brunnen zu errichten, die in geistige Tiefen führen. Sie beneiden den aus dem Geist Schöpfenden und versiegen den Zugang zu geistigen Verbindungen mit ihrem materiellen Schutt. Isaak wird angewiesen, die Philister zu verlassen, denn er ist ihnen überstark geworden (16).
So ging Jizchak von dort, er lagerte im Talgrund von Grar und siedelte dort. (…) Auch gruben Jizchaks Knechte im Talgrund und fanden dort einen Brunnen lebendigen Wassers. Die Hirten von Grar aber stritten mit den Hirten Jizchaks, sprechend: Unser ist das Wasser!
Es ist der uralte Streit zwischen dem der hat und dem, der nicht hat, der in der Bibel mehrfach als Bruderstreit dokumentiert ist. Auch die Knechte sind im Sinne des Berufsstands verwandt. Dabei ist der geografische Ort des Zwists nebensächlich. Ein Ort namens Grar hat zwar nachweislich existiert, doch sind biblische Ortsnamen und deren geografische Lage nicht selten symbolisch zu verstehen. In „Gerar“ (im Originaltext mit flüchtigem ‚e’, Betonung auf der zweiten Silbe) steckt das Wort „Ger“, ‚Fremdling“. Sowohl Isaak wie sein Vater Abraham waren Fremde in Grar. Isaak verlässt die Ortschaft Grar auch nicht wirklich, im geografischen Sinne, wie man nach seiner Ausweisung vermuten würde, er lagert „im Talgrund“. Ein Tal ist im Gegensatz zum Berg ein „Symbol für Abstieg und Tiefe, im negativen Sinne als geistig-seelische Verlustsituation“ (Herder Lexikon Symbole). Daher wundert es nicht, dass im Talgrund Streit ausbricht. Im Talgrund der Seele jedoch findet der Nomade Isaak das Gleiche, was er auch als „Bauer“ nach seiner Saat „fand“: es sind geistige Schätze, die Isaak erntet oder schöpft. Hier im Talgrund dringt er bis zur geistigen Quelle vor, er schöpft „lebendiges Wasser“.
Die Quelle, ein Sinnbild fruchtbaren Überflusses (Herder), wird von „Menschen der Materie“ (den „Philistern“) nicht als Ursprung lebensspendender Kräfte erkannt. Sie bilden sich ein, selber zu schaffen: Unser ist das Wasser! Geist und Materie scheinen im Talgrund von Grar unversöhnlich.
So rief er den Namen des Brunnens Essek, Hader, weil sie mit ihm gehadert hatten. Und sie gruben einen anderen Brunnen, und auch um den stritten sie, so rief er seinen Namen Ssitna, Fehde. Er rückte von dort weiter und grub einen andern Brunnen, um den stritten sie nicht mehr, so rief er seinen Namen Rechobot, Weite. (…) Von dort stieg er auf nach Beerscheba (21-22).
Martin Buber, der sich in seiner Bibelübersetzung im Allgemeinen streng an den hebräischen Originaltext hielt, wich auch hier mit der Bezeichnung des zweiten Brunnens von diesem Prinzip etwas ab: „Ssitna“ ist die ‚Anklage’. Darin steckt das bekannte Wort „Ssatan“, ‚Widersacher’, ‚Ankläger’, - ‚Satan’. Es findet hier am zweiten Brunnen zweifellos eine Steigerung des Seelendramas statt. Mit dem dritten Brunnen kommt die Rettung. Die „Drei“, ein Sinnbild der Vermittlung (Herder), begegnet im Märchen häufig als Anzahl zu bestehender Prüfungen oder zu lösender Rätsel. Isaak fand die richtige Lösung: er rückte von dort weiter. Der Name des Brunnens, „Weite“ deutet an: Er hat sich einer geistigen Weite genähert. Materie und Geist liegen hier nicht mehr im Streit. Mit ihrer „Gleichgewichtigkeit“ findet Isaak den seelischen Ausgleich. Aus dieser Harmonie ist es leicht, nach Beerscheba „aufzusteigen“.
„Sheva“, ‚sieben’, gilt von alters her als heilige Zahl und ist Sinnbild für Vollendung, der Fülle und der Vollständigkeit (Herder). Beerscheba, ‚der Brunnen der Sieben’, ist der Ort, an dem Isaak, wie schon sein Vater Abraham, Frieden findet.
Das Motiv des Abstiegs und Aufstiegs in Verbindung mit einem Brunnen ist ein bekanntes Märchenmotiv (s. Frau Holle). Das Märchen in der Bibel trennt den Aufstieg seiner Märchenfigur in die geistige Welt nie vollständig von seiner Verankerung in der alltäglichen Welt der Materie. Hebräische Märchenhelden feiern keine mystische Hochzeit, sie lösen ihr Ich nicht auf. Stattdessen schließen Ich und Du einen Bund miteinander, wie Isaak und Abimelech. Abimelech bringt zu diesem Bundesschluss seine Begleiter, Symbolfiguren der materiellen Welt mit: Achusat (‚Landbesitz’) und Pichol (‚Mund aller’), seinen Heeresobersten.
(Isaak) machte ihnen ein Trinkmahl, sie aßen und tranken. Frühmorgens standen sie auf und schwuren einander (30-31)
„Schwören“ ist wortverwandt mit „sieben“, scheva’. Als die Knechte Isaak melden, dass sie Wasser „gefunden“ haben, nennt er diesen Brunnen Schwur-Sieben (33) Das Erlebnis der Einheit, die Besiegelung des Bundes, wird so doppelt unterstrichen.
Dann schickte Jizchak sie heim, und sie gingen von ihm in Frieden.
Frieden ist möglich.
- Eine Märchenfigur und eine wissenschaftliche Studie -
(erschienen in Jüdische Zeitung, Mai 2013)
Die Studie trägt den Namen Defending the Holy Land. Ihr Autor ist Zeev Maoz, Professor für Politische Wissenschaften an der Kalifornischen Universität in Davis und an der Universität Tel Aviv. In früheren Jahren lehrte Maoz auch an der Universität Haifa, am „Jaffa-Zentrum für Strategische Studien“ und am „Kolleg für Nationale Verteidigung“ der israelischen Verteidigungsarmee, IDF. Maoz führte eine kritische Analyse israelischer Sicherheits- und Außenpolitik durch und veröffentlichte sie 2006 unter dem genannten Titel. Sie ist auch 2013, nach den jüngsten Luftangriffen auf Gaza, noch hochaktuell.
Und wer oder was ist Schlamassel? Schlamassel heißt eigentlich Schlimasel, ist jiddisch und bedeutet so viel wie „schlimmes Schicksal“. Schlamassel heißt auch der Held oder besser der Antiheld eines modernen Märchens des Nobelpreisträgers Isaac B. Singer. Der eigentliche Held ist Massel, übersetzt „Glück“. Massel und Schlamassel sind zwei Geister in der gleichnamigen Geschichte und gehen eine Wette ein: Schlamassel wettet, dass er es schafft, in kurzer Zeit alles zu zerstören, was Massel zuvor aufgebaut hat.
Singers Märchen, wenn auch empfehlenswert, lassen wir im Bücherschrank. Lediglich die Figur des Schlamassel soll diesem Buch entlehnt und hier als symbolische Figur der Ursachen missglückter israelisch-politischer Handlungsstrategien verwendet werden. Auf ursächliche Faktoren weist auch Maoz’ Studie hin. Sie war in den Worten des Autors nicht dazu gedacht, Geschichte zu dokumentieren, sondern verschiedene zeitgeschichtliche Episoden – die israelische Seite betreffend - zu evaluieren. Einige dieser Episoden sollen hier für die Vorstellung des Buches herausgegriffen werden. Die daraus wörtlich übernommenen Textstellen werden dabei, übersetzt und kursiv gedruckt, Symbolfiguren in den Mund gelegt. Seitenangaben in Klammern verweisen auf den englischen Originaltext.
Mit den Symbolfiguren des Anklägers und des Schlamassels als Angeklagtem kann sich der Leser mit ein bisschen Phantasie Auszüge aus einer Art fiktiver Gerichtsverhandlung vorstellen. „Zeugen“ werden hier selten benannt, dafür sei auf die zahlreichen Nachweise in Maoz’ Studie verwiesen.
Zum Sinai-Krieg 1956
Ankläger: Wie war es für Israel möglich, diesen Krieg zu führen, obwohl zuvor weite Teile der Bevölkerung und auch Ministerpräsident Sharett gegen einen zweiten Krieg waren?
Schlamassel: Ich half Ben Gurion, Sharett aus dem Amt zu jagen. Nachdem Sharett einmal aus seinem Amtssitz entfernt war, gab es zu der Kriegskoalition in Kabinett und IDF keine innerstaatliche Opposition mehr. [36] Sharetts Beseitigung bereitete den Weg für die geheime Absprache mit Großbritannien und Frankreich. Die Regierung wurde erst eine Woche vor Ausbruch des gesamten Sinai-Unternehmens eingeweiht. Dadurch dass der führende Kopf des moderaten Lagers beiseite geräumt war, konnte Ben Gurion der Unterstützung der Regierung für das Unternehmen ohne Schwierigkeiten sicher sein. [66] Aus heutiger Sicht arbeitete diese zweite Runde schon seit den frühen 50er Jahren in den Köpfen der Hauptakteure der politischen und militärischen Elite in Israel. Das Problem war, den richtigen Zeitpunkt, den Vorwand und die internationale Übereinkunft zu finden, um sie zu verwirklichen. [62]
Ankläger: Mit welchen Tricks und Vorwänden hast du nachgeholfen?
Schlamassel: Durch einen Waffendeal. Nasser half Israel, indem er mit dem ägyptisch-sowjetischen Waffengeschäft von September 1955 den strategischen Vorwand lieferte. Er half auch mit einem diplomatischen Vorwand: der Verstaatlichung des Suezkanals am 26. Juli 1956. Diese ermöglichte die betrügerische Absprache mit Frankreich und Großbritannien. Die Absicht des Krieges wurde in keiner offiziellen israelischen Erklärung abgegeben. Die Absicht war der Sturz Nassers und eine Neuordnung des Nahen Ostens. [36] Die Bedrohung durch wiederholtes feindliches Eindringen und die Blockade israelischer Schiffe waren wohl ernst zu nehmende Probleme, aber sie waren nicht die Hauptursache des Krieges. [74]
Ankläger: Welche weiteren Mittel wandtest du an?
Schlamassel: Was ich immer anwende, ich schüre die Angst. Die Rhetorik von Panik und Verzweiflung, mit denen die Akteure die Medien und die Knesset beschallten, verschaffte die passende Unterstützung der Bevölkerung für die Kriegsoption. [68]
Zum Sechs-Tage-Krieg
Ankläger: Welche deiner Tricks führten zum Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs?
Schlamassel: Provokationen. Zwischen 1965-67 inszenierten die israelischen Verteidigungskräfte IDF zahlreiche Provokationen, darunter auch absichtliche Missachtungen der Demilitarisierten Zonen, DMZ, und des syrischen Gebiets nordöstlich des Sees Genezareth. [103] Das Hauptziel dieser “kontrollierten” Eskalation war, die Syrer zu bewegen, ihre Unterstützung der PLO aufzugeben. [102]
Der Zeuge Moshe Dayan: Das ging so: wir schickten einen Traktor los, um irgendein Gebiet in der Demilitarisierten Zone zu beackern, da wo gar nichts wachsen konnte, und wir wussten schon vorher, dass die Syrer schießen würden. Wenn sie nicht zurückschossen, sagten wir dem Traktorfahrer, er solle weiter in die DMZ hineinfahren, bis die Syrer schließlich durchdrehten und zurückschössen. Und dann konnten wir die Artillerie einsetzen, und später die Luftwaffe. [103]
Ankläger: Die Zahl der Fatah-Infiltrationen aus den Golanhöhen war begrenzt, es gab nur wenige Opfer. Syrien war keine ernsthafte strategische Bedrohung für Israel. Darum gab es keinen Grund zur Abschreckung und nur einen geringen für Drohungen. [110] Wie ist es dir gelungen, die “kontrollierten Eskalationen” entgleisen zu lassen?
Schlamassel: Als sich die israelisch-syrischen Zusammenstöße bis in das Jahr 1967 fortsetzten, beschlossen die IDF, ein schärferes Signal auszusenden. Das Abschießen der sechs syrischen Mig-21 Jets am 7. April war als Abschreckung für die Syrer gedacht gewesen. Die Folgen dieser Aktionen und Erklärungen liefen aber gerade auf das Gegenteil hinaus; sie schalteten nämlich alle roten Lampen in Damaskus an. Die Syrer dachten an einen bevorstehenden israelischen Angriff und gaben ihre Vermutung an die Sowjets weiter. [89] Die Zunahme der provokativen Aktionen war von flammenden Reden der Politiker und Generäle begleitet. Diese Eskalation ließ die Syrer und die Sowjets glauben, die Israelis hätten einen Plan zum Umsturz des syrischen Regimes in Damaskus durch eine groß angelegte militärische Aktion im Sinn. [110] Die Sowjets überbrachten den Ägyptern falsche Informationen über israelische Truppenkonzentrationen.[89]
Ankläger: Falschmeldungen stammen in der Regel von dir. Was bewirkten sie?
Schlamassel: Zum Beispiel die ägyptische Truppenbewegung in den Sinai. IDF-Kommandeure interpretierten diese Bewegung – ganz richtig – als ägyptische Bemühung, im Hinblick auf die sowjetischen Berichte über israelische Truppenkonzentrationen im Norden, Israel abzuschrecken. [89] Israels militärische Abenteuer gegenüber Syrien hatten starke Wechselwirkungen auf die innerstaatliche Schwäche des syrischen Regimes und der innerarabischen politischen Rivalität, die Nasser in die Ekalation trieb. [110]
Ankläger: Es scheint, die IDF Kommandeure waren nicht allzu besorgt über einen ägyptischen Überraschungsangriff [89], - demnach musst du doch noch weitere Mittel verwendet haben, um diesen Krieg zu starten?!
Schlamassel: Gewiss doch, und was ich immer anwende, ich schüre die Angst - oder lasse sie schüren.
Zum Jom-Kippur-Krieg
Ankläger: Klären wir einige Folgen. Welche betrachtest du als die wirkungsreichsten, um nicht zu sagen, die verhängsnisvollsten deines Tuns?
Schlamassel: Die Nuklearstrategie. Nirgendwo waren die Auswirkungen des Krieges so stark empfunden worden wie auf dem Gebiet der Nuklearstrategie.”[104] Israel bestückte seine nuklearen Sprengköpfe bei wenigstens zwei Gelegenheiten während des Krieges: 9. Oktober und 23. Oktober ... es hatte zwei oder drei Dutzend Bomben und rund ein Dutzend nukleare Sprengköpfe auf seinen Jericho-Raketen. Der Krieg führte zu einer bedeutenden Aufrüstung des Atomreaktors in Dimona und zu einer beschleunigten Produktion nuklearer Waffen aller Art. [104] Ursprünglich sollten diese Waffen nur unter den düstersten Umständen verwendet werden. Nach dem Jom-Kippur-Krieg ist es ganz einleuchtend, dass einige Militärplaner begannen, diese Waffen auch als einsatzfähig für begrenzte militärische Waffengänge zu halten, um einer großen Niederlage vorzubeugen. Dieser Ansichtswandel ging fast ganz unbemerkt vor sich, gewiss ohne irgendeine gehaltvolle Debatte oder eine politische Kontrolle.[105]
Ankläger: Es ist von vielen Fehlern in diesem Krieg die Rede. Welches war der größte Fehler, den du auf israelische Verantwortliche übertragen konntest?
Schlamassel: Der größte Fehler war, ihn nicht durch diplomatische Mittel verhindert zu haben. [168]
Ankläger: Mit welchen Mitteln trugst du zur Verschlechterung nach Kriegsende bei?
Schlamassel: Womit ich immer beitrage, ich schüre die Angst; der Krieg vertiefte die israelische Paranoia. [143]
Zum Libanon-Krieg
Ankläger: Kommen wir zum Libanon-Krieg, jenem von 1982 bis 2000, der große Fragen aufwirft. Was waren deine vorrangigen Einsatzmittel für die Durchführung dieses Krieges?
Schlamassel: Manipulation, Lügen, Heimlichkeit, - und das Erwecken alter unrealistischer Träume. Der Libanon-Krieg betraf eigentlich nicht den Libanon. Er war Teil eines großen Plans, der darauf zielte, eine neue Ordnung in den besetzten Gebieten zu schaffen. Er war dazu gedacht, die israelische Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch die Zerschlagung der PLO aufrechtzuerhalten. Der Plan entfaltete sich im Kopf Ariel Sharons und wurde, wenigstens teilweise, von Menachem Begin aufgenommen. Die Sache mit dem Libanon war nichts anderes als ein von zwei Individuen gemachter Krieg. [173]
Ankläger: Was für ein Plan?
Schlamassel: Die Zerschlagung der PLO mit Hilfe der libanesischen christlichen Milizen. Eine Niederlage der PLO im Libanon würde den palästinensischen Traum nach einem eigenen Land im Westjordanland und im Gazastreifen zerschlagen. [182] Dies bedeutete die Wiederbelebung von Ben Gurions altem Traum von einem christlich dominierten, mit Israel verbündetem Staat. [180]
Der Zeuge Moshe Dayan: (wiederholt seine Aussage v. 16.5.1955 ) Alles was dazu benötigt wird, ist, einen Offizier (in der libanesischen Armee) zu finden, oder auch einen Hauptmann, dessen Sympathien zu gewinnen oder ihn auch zu kaufen, damit er sich selber zum Retter der maronitischen Gemeinschaft ausruft. Dann könnten die IDF in den Libanon eindringen, das erforderliche Gebiet besetzen und eine christliche Regierung in Allianz mit Israel aufstellen. Das Gebiet südlich des Flusses Litani wird vollständig von Israel annektiert, und alles wird gut[378]
Ankläger: Was wurde von diesem Plan verwirklicht?
Schlamassel: Bis zum Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs 1974 waren Israels geheimdienstliche Aktivitäten auf typische Zusammenkünfte der Geheimdienste beschränkt gewesen, entweder durch elektronische oder menschliche Träger ... Als der Bürgerkrieg ausbrach, knüpfte der israelische Geheimdienst starke Beziehungen zu den christlichen Milizen. Diese Verbindungen führten zu den typischen Interventionstaktiken: Waffenlieferungen, taktische Beratung, geheimdienstliche Zusammenarbeit, usw. [379] Im November 1981 informierte Sharon den Anführer der christlichen Phalanx, Bashir Gemayel – der gerade seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt gegeben hatte, – dass Israel einen großangelegten Angriff auf die PLO und die syrischen Streitkräfte geplant habe. Kurioserweise weihte diese Botschaft Bashir in eine Sache ein, die vom israelischen Kabinett noch nicht einmal erahnt wurde! Im Januar 1982 machte Sharon einen heimlichen Besuch im Libanon und traf sich mit christlichen Führern ... Der Deal war trügerisch einfach: Israel würde eine militärische Situation herbeischaffen, die es den Christen ermöglichte, West-Beirut zu besetzen und damit die Wahl von Bashir Gemayel zum Präsidenten des Libanon zu erleichtern. [180]
Ankläger: Wie hat das Kabinett dazu gebracht werden können, dem Angriff auf den Libanon seine Zustimmung zu geben? Sogar Hardliner, die den Bedrohungen, die von der Präsenz der PLO im Libanon ausgingen, Bedeutung beimaßen, hielten einen Angriffskrieg für keine gute Lösung. [182]
Schlamassel: Sharon präsentierte diesen Plan als eine “Überwachungsaktion”. Als er gefragt wurde, wie lange diese Aktion dauern würde, antwortete er: 24 Stunden. Zu Begins uns Sharons großem Entsetzen brachte die Abstimmung ein Patt, sieben Minister dafür und sieben Minister dagegen ... aber die große Gelegenheit kam, als am 3. Juni der israelische Botschafter in London, Shlomo Argov von einem palästinensischen Terroristen niedergeschossen wurde ... In einer Kabinettssitzung informierte Avraham Shalom, der Chef des israelischen Geheimdienstes, die Minister, dass der Anschlag durch die Abu Nidal-Organisation ausgeführt worden war. Aber Begin unterbrach Shalom: “sie sind doch alle PLO” und empfahl dann einen groß angelegten Luftangriff gegen PLO-Hauptquartiere in Beirut. In der Kabinettsrunde verstand jeder sofort die Konsequenzen für die Zustimmung zu dieser Aktion. [189] Mit dem Auslösen dieser Attacke öffnete Israel eine Büchse der Pandora, die das Land noch jahrelang heimsuchen würde.[250] Eines meiner Meisterstücke.
Ankläger: Zu den Manipulationen: Libanon ist nicht der einzige Fall. In vielen Fällen war das Ergebnis dieser politischen Manipulationsbemühungen, dass die Feinde schließlich wesentlich extremer und gefährlicher waren als jene, die Israel eigentlich mit dem Manipulationsprozess schwächen wollte. [382] War die Bevölkerung informiert gewesen?
Schlamassel: All diese politischen Aktivitäten begannen als heimliche Bemühungen, die von verschiedenen Nachrichtendiensten ausgingen. Meistens waren diese Manipulationen für das öffentliche Auge unsichtbar. Die meisten Fälle waren nicht Gegenstand einer parlamentarischen Überwachung; erst als sie auf der öffentlichen Agenda erschienen – typischerweise nachdem das Ausmaß der Katastrophe der Öffentlichekeit bekannt wurde. [383]
Ankläger: Welche noch nicht genannten Mittel sind von dir angewendet worden?
Schlamassel: Was ich immer anwende, ich schüre die Angst. Israels zögernde Friedenspolitik war in tiefen psychologischen Problemen, die seine politische Führung und seine Gesellschafft plagten, eingebettet. [555]
Hier endet das fiktive Protokoll. Die “Verhandlungen” dauern bis heute an. Noch ist es nicht gelungen, Schlamassel dingfest zu machen. Seine Taktiken und Strategien, allen voran der Einsatz von Gewalt, haben Israel (und nicht nur Israel) fest im Griff. In Singers Erzählung säuft sich Schlamassel schließlich zu Tode und Massel gewinnt die Wette. Aber es sind Geister. Ohne Mitarbeit der Menschen kommen sie nicht aus.
(erschienen in Jüdische Zeitung, Dez 2013)
Wer wäre nicht schon mit ihr in Berührung gekommen, mit der Geschichte vom Neuen Antisemitismus. Eine verführerische Geschichte, eine gefährliche Geschichte. Sie ist in vieler Munde und arbeitet in vielen Köpfen. Auch die ARD widmete ihr einen Teil ihrer Sendezeit mit der Ausstrahlung des Films „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland“ (Die Story im Ersten, 28.10., 22.45 Uhr).
Dass Antisemitismus gefährlich werden kann, hat die Geschichte gelehrt. In unseren Tagen ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen. Sie tritt immer dann auf, wenn Antisemitismus instrumentalisiert wird und falsche Schlüsse gezogen werden. Erziehung und Aufklärung zu dessen Abwehr und Wachsamkeit sind ohne Zweifel angeraten. Dass weitere gezielte Maßnahmen gegen das Erstarken von Antisemitismus notwendig sind, ist eine richtige Schlussfolgerung, die eine Studie zur Erhebung von Antisemitismus im Auftrag der EU-FRA (Fundamental Rights Agency/ Agentur der Europäischen Union für Grundrechte) aus dem Ergebnis gezogen hat. Wenn aber unseriöse Wächter mit inflationär gebrauchten Warnungen, nicht nachweisbaren Behauptungen und falschen Anschuldigungen öffentlich wirksam werden, wird der vermeintliche Einsatz zum Schutz der Juden leicht in sein Gegenteil verkehrt.
Nach der Studie der EU, deren Ergebnisse am 8. November dieses Jahres veröffentlicht wurden, sind 26% der Befragten (- 5.847 Juden aus neun Mitgliedsstaaten der EU -) im Verlauf des Jahres vor der Befragung verbalen Beleidungen oder Belästigungen ausgesetzt gewesen, weil sie Juden sind. 4% geben an, körperliche Gewalt oder Androhung körperlicher Gewalt erfahren zu haben. 76% sind der Meinung, dass Antisemitismus in den letzten fünf Jahren in ihrem Land zugenommen habe. So weit, so schlimm. Was aber kennzeichnet das Neue, das den zunehmenden Antisemitismus unserer Tage ausmacht? Dazu geben die Befragten der Studie einen interessanten Hinweis. Auf die Frage, ob sie Nichtjuden als antisemitisch betrachten würden, wenn sie den Staat Israel kritisieren, antworteten 34% der Befragten mit „ja“.
Könnte Kritik am Staat Israel mit zu der neuen Form des Antisemitismus gehören? - Es könnte. Der Prozentsatz ihrer Vertreter dürfte allerdings aufgrund uneinheitlicher Definitionen über den Charakter von Antisemitismus und angesichts wachsender Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierungspolitik schwer zu ermitteln sein. Diejenigen, die aus ihrer Sicht berechtigte Kritik an israelischer Unterdrückungspolitik gegenüber den Palästinensern üben, sehen sich mehr und mehr Angriffen von israelfreundlichen Kreisen gegenüber, die jede Kritik an der Politik Israels als antisemitisch abstempeln oder eine antisemitische Motivation suggerieren wollen. Wer aber sind diese Kreise, die jeder Aufklärung über israelisches Fehlverhalten das Wort absprechen wollen? Da fallen zunächst zwei Kreise auf, die untereinander nicht immer klar zu trennen sind. Zu dem einen gehören jene, denen die Erfahrung der Geschichte Angst gelehrt hat. Für sie stellt der Staat Israel einen Sicherheitsanker dar, der nicht angetastet werden darf. Angst stellt sich der Erkenntnis in den Weg, dass mit der Tabuisierung jeglicher Kritik der Staat zu einem Idol wird – zu einem Götzen. Der andere Kreis kann diese Angst als Instrumentarium für seine Propaganda nutzen. In nichtjüdischen Kreisen findet diese Propaganda ihre Opfer leicht bei den Schuldbewussten, den Suchenden, den Faszinierten, den Profilierungssüchtigen.
Diskussionen um den „neuen Antisemitismus“ gibt es weltweit. Warnungen vor einem Ansteigen des „neuen Antisemitismus“ fanden Abdruck in angelsächsischen Publikationen wie The New Anti-Semitism (Phyllis Chesler), Never Again? (Abraham Foxman) oder A New Antisemitism (Paul Iganski/ Barry Kosmin). Allen diesen ist gemein, dass sie Kritik an Israel unter dem gleichen Blickwinkel sehen wie einschlägige antisemitische Vorfälle. Dabei werden Ängste geschürt oder geweckt. Foxman, Vorsitzender der „Anti-Defamation-League, geht so weit zu sagen, “Ich bin davon überzeugt, dass wir bezüglich der Sicherheit des jüdischen Volkes zurzeit einer so großen Gefahr gegenüberstehen wie während der 1930er Jahre – wenn nicht einer noch größeren”.
Doch auch Gegenansichten wurden publiziert. Brian Klug, Professor für Philosophie an der Universität Oxford, veröffentliche 2004 einen Aufsatz in The Nation unter dem Titel „The Myth of the New Anti-Semitism“. Er beklagt die Vermischung von Israelkritik und Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinugnsformen. „Diese Vermischung, verbunden mit einer an McCarthy erinnernden Tendenz, Antisemiten unter jedem Bett zu finden, trägt eher mit zu einem feindlichen Klima gegenüber Juden bei. Das Resultat ist, dass die Sache für diejenigen schlimmer gemacht wird, die man zu schützen beabsichtigte.“
Brian Klug war eingeladen worden, im Rahmen der Tagung “Antisemitismus heute – die Phänomene, die Konflikte” am 8. November im Jüdischen Museum in Berlin zu sprechen. Vortragsthema: “Was meinen wir, wenn wir von Antisemitismus sprechen?”. Die Ankündigung löste Kritik aus. Die Redaktion der Jerusalem Post, mit offener Aufnahmebereitschaft für Meldungen über Antisemitismus in Deutschland, veröffentlichte eine Mitteilung von Clemens Heni an die Redaktion, in der dieser den Hauptreder Brian Klug als “schlechte Wahl” diffamiert. “Experten”, erklärt Heni den Lesern der Jerusalem Post, “sehen 'den neuen Antisemitismus' als Angriffe an, die darauf zielen, Israel zu dämonisieren, zu delegitimieren und mit zweierlei Maß zu messen”. Wer diese “Experten” sind, erklärt er nicht. Auch nicht, wer die Träger des “Berlin International Center for the Study of Antisemitism” sind, dessen Webseite die Einrichtung als Think-tank und einzig ihn selber als Direktor vorstellt.
Antisemitismus war nicht nur ein Schlagwort für die Jerusalem Post. Auch Haaretz veröffentlichte mehrere Beiträge zum Thema “Antisemitismus”, bzw. zu den Kampagnen, die sich diese Erscheinung für ihre Ideologie zu Nutze machen. Für Carlo Strenger zeigt die Kritik an der Wahl Brian Klugs als Hauptredner in der Berliner Antisemitismus-Konferenz, dass viele der gutmeinenden Israelfreunde noch nicht erkannt haben, was für einen unheilvollen Weg sie für die Bekämpfung von Antisemitismus gewählt haben. “Sie vermengen Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus und sie belegen jeden, der mit dieser Politik nicht einverstanden ist, mit diesem Klischee. In anderen Worten: sie verwenden Vorurteile, um Antisemitismus zu bekämpfen.” (Haaretz, 13.11.) Strenger sieht Menschen, insbesondere seine jüdischen Mitmenschen mit der Erfahrung von Unterdrückung, in der Pflicht, gegen Vorurteile, Fremdenhass, Rassismus und Verletzung der Menschenrechte anzugehen, wo immer sie zu finden sind. Aber niemals sollte Antisemitismus mit demselben Mittel bekämpft werden, das es zu bekämpfen gilt: stereotype Vorurteile (ibid).
Auch in der oben angesprochenen Fernsehsendung der ARD wurde Israelkritik mit Israelhass gleichgesetzt. Kritiker israelischer Politik wurden stereotyp und in Erfüllung der drei Ds der israelischen Propaganda - Diffamierung, Delegitimierung und Doppelte Standards - dargestellt. Da wird ein Plakat zum Boykottaufruf israelischer Produkte demonstrativ neben ein Naziplakat mit der Aufschrift „Kauft nicht bei Juden“ gestellt und die Suggestion durch den Sprecher noch zusätzlich verstärkt: „So ist Israelkritik die moderne Möglichkeit, wie sich Judenfeindlichkeit neue Wege bahnen kann: Boykott heute und gestern.“
In ähnlicher Weise rückte die ARD-Sendung die Abgeordnete der Grünen, Kirsten Müller, in ein falsches Licht. In fast peinlicher Vorführung musste sie die Anfrage der Grünen an die Bundesregierung nach Richtlinien zur Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen rechtfertigen, wobei sie und der Zuschauer informiert wurden, dass die NPD eine ähnliche Anfrage eingereicht habe. Auch hier ein manipulativer Kommentar des Sprechers: „Verbraucherschutz als politische Waffe oder doch Antisemitismus?“
Die Liste an Beispielen sprachlicher und bildlicher Manipulation zugunsten der Untermauerung eines „neuen Antisemitismus“ ließe sich fortführen. Da sei noch die Lenkung der Kamera auf den - zweifellos fragwürdigen – Slogan „Kindermörder Israel“ erwähnt. Wenn der Kommentator dabei die mittelalterlichen Ritualmordbeschuldigungen in Erinnerung ruft, die tödlichen Angriffe auf Hunderte von Kindern in Gaza, gegen die sich der Slogan der Demonstration richtete, aber unerwähnt lässt, dann ist die Berichterstattung gefärbt zu nennen und verdient nicht die Bezeichnung „Dokumentation“. Man fragt sich, ob die Verantwortlichen der ARD den anfänglich guten Filmbeitrag zu Ende gesehen und geprüft haben, oder ob sich unter ihnen vielleicht Opfer oder gar Täter falscher Propaganda befinden.
Die beliebige Verwendbarkeit und Austauschbarkeit der Bezeichnungen Israel mit Juden oder Kritik mit Hass, die in den oben genannten Publikationen angesprochen wurde, begleitet auch den hier angesprochenen Teil des ARD-Films bis in die Schlussaussage, die Israelkritik mit „Feindbild Israel“ gleichsetzt. In einem Punkt ist der Reportage allerdings zuzustimmen: Israel wird unverhältnismäßig oft gegenüber anderen Ländern kritisiert. Der von dem Vorsitzenden des Zentralrats, Dieter Grauman, wiedergegebene Eindruck, dass hier eine Schieflage vorherrsche, ist nachvollziehbar, aber nicht gerechtfertigt. Nicht selten kommen Israels Kritiker aus den Reihen früherer Freunde Israels, die durch ihre Besuche in Israel und den Besetzten Gebiete auf Missstände aufmerksam wurden. (Der Sammelband Denk ich an Palätina, herausgegeben von Günter Schenk, legt davon Zeugnis ab). Eine generalisierende Gleichsetzung der Israelkritik mit Antisemitismus ist nicht korrekt.
Ernst zu nehmen ist das Argument, dass diese Gleichsetzung den Juden selber großen Schaden zufügt. Zum einen kann die häufige Erfahrung ungerechtfertigter Antisemitismusvorwürfe eine Tendenz zur Abneigung gegenüber dem Judentum bewirken. Zum anderen wird das zum Schweigen gebrachte Feld der wohlmeinenden Kritiker leicht freigegeben für die wirklichen Feinde Israels. Es entsteht ein Vakuum, das die Gefahr birgt, mit unsachlicher antisemitischer Kritik gefüllt zu werden. Darum ist es wichtig, dass auch Israelfreunde die Stimme gegen Unrecht und Unterdrückung in der Politik Israels erheben. Von der jüdischen Gemeinschaft, auf deren Namen sich die israelischen Regierungen immer wieder beziehen, ist zu hoffen, dass sie ihre Loyalität zu einer Politik der Unterdrückung hinterfragt und die konstruktive Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen zum politischen Vorgehen Israels nicht scheut.
Viele Juden haben die Fatalität israelischer Regierungspolitik längst erkannt. Sie sind weltweit in jüdischen Menschenrechtsorganisationen organisiert. Einigen noch Zweifelnden mag es so gehen wie dem Reisenden in der jüdischen Geschichte, der bei jeder Bahnstation den Kopf aus dem Fenster neigt und stöhnt. Auf die Frage, warum er denn stöhne, antwortet er: „Ach, ich fahre ja ständig in der falschen Richtung.“ Was der jüdischen Religionsgemeinschaft in Deutschland fehlt, sind repräsentative Vertreter einer religiös orientierten Führung, die den Zug der Verirrten aufzuhalten versuchen, wie beispielsweise die „Rabbiner für Menschenrechte“ in Israel oder „T'ruah“ in Amerika; eine Führung, die mutig genug ist, Propaganda und Götzendienst entgegenzutreten und die Notbremse in dem falschen Zug zu ziehen.