Die Belagerung Gazas durchbrechen.

Der Freegaza-Bewegung ist es gelungen.  Am 23. August 2008 legte zum ersten Mal nach vierzig Jahren ein Schiff im Hafen von Gaza an.

Die Bekanntschaft mit "Freegaza" kam durch das Internet zustande. Ich hörte von der Website, als ich bei einem Treffen der "Jüdischen Stimme" von meiner Intention, nach Gaza zu reisen, erzählte. In Nikosia auf Cypern, dem Vorbereitungsort für die Teilnehmer, lernten wir uns näher kennen. Und wir lernten gemeinsam zu prüfen, ob wir uns für die Reise eigneten. 

Die Gefahr war mir vorher bewusst.  Die Sommerferien fielen in diesem Jahr aus. Die Medien mussten auf das Ereignis vorbereitet werden, um die Wahrscheinlichkeit des Gelingens der Reise in jeder Hinsicht zu erhöhen. (Mit Erfolg: Erstes und Zweites Fernsehprogramm und viele andere Medien berichteten von der Reise.) Persönliches musste vor der Abreise noch geordnet werden für den Fall, dass die gesunde Rückkehr ausbliebe. Aber vor allem mussten noch Geschenke besorgt werden. Menschen in Gaza hatten sich Musikinstrumente gewünscht. Und von der Atfaluna-Gehörlosenschule  war der Wunsch nach Hörgeräten geäußert worden - durch die Bombardements sind viele Kinder hörgeschädigt.

 

20.8.2008: Nach vielen Verzögerungen treffen die beiden alten Boote endlich im Hafen von Larnaca ein. Das größere Segelboot ist die "Freegaza"; der kleinere Fischerkutter, auf dem ich reisen werde,  die "Liberty" - so benannt nach dem Boot, das 1967 aus offiziell unerklärten Gründen mit Menschen an Bord versenkt wurde. 

 

Links: Mit mir an Bord soll Hedy Epstein sein, gebürtige Freiburgerin, die in der Nazizeit Deutschland mit den Kindertransporten verlassen hatte. Aber Hedy muss aus gesundheitlichen Gründen leider passen.

Rechts: An Bord der Freegaza reist der  Israeli Jeff Halper von ICAHD. Im Bild (re) neben ihm Vittorio Arigoni.

 

Fast zwei Tage und eine Nacht sind wir auf dem Wasser. Die Nacht wird stürmisch und gleicht einer "Jona-Nacht" im Bauch des Wals. Der Wellengang zeichnet das Licht des Schwesterschiffes an den Sternenhimmel. Es gibt keinen Satelliten-Kontakt mehr.  

Am Morgen ist die See ruhig, der Himmel blau, wir sind kurz vor Gaza, kein israelisches Militärschiff in Sicht. Bald taucht die Skyline des übervölkerten Gazastreifens auf. Und bald kommen uns die ersten Boote zur Begrüßung entgegen - israelische Militärboote lassen Boote aus Gaza nur wenige Meilen hinausfahren. Immer mehr Boote umringen uns mit freudigem Lärm, an Land haben sich Volksmassen versammelt, die Freude ist unbeschreiblich (unten links und Videoclip).

 

Am Morgen darauf, nach der ersten Pressekonferenz (im Bild Mitte der Psychiater Dr. Eyad Sarraj, rechts neben ihm Jeff Halper) beginnt ein dreitätiges Besuchsprogramm, an dem wir wahlweise in Gruppen teilnehmen. Meine Gruppe besucht zunächst das Schifa-Krankenhaus. Auf den ersten Blick sieht es aus wie jedes andere Krankenhaus. Aber wir kennen die Bilder von der "Operation Sommerregen" 2006 (welch ein Ausdruck), als hier viele Verletzte, Verstümmelte, Tote vorgefahren wurden. Wir haben die Bilder mit den von Bomben und Granaten aufgerissenen Schädel gesehen, die zerfetzten Bäuche mit hervorquellenden Eingeweiden, schreiende oder bewusstlose Kinder, die ihre abgerissenen Gliedmaßen neben sich liegen hatten. Dr. Bill Dienst, der in diesem Krankenhaus arbeitete, ist Passagier auf der Liberty. 

Danach wird die Gruppe in das "Beach Camp"- Flüchtlingslager gefahren, in dem Regierungschef Ismael Hanije wohnt. Eine Einladung ist der Gruppe erst am Morgen überbracht worden. Ihr zu folgen oder nicht, ist den einzelnen Teilnehmern überlassen. Hanije begrüßt jeden Einzelnen von uns und führt uns anschließend durch das enge Wohnviertel (Video). Seine Worte zu mir: "Wir haben nichts gegen Juden, wir haben etwas gegen die Besatzung".  

Den Ohring mit dem Davidstern kann ich unbekümmert tragen (- wie mag es heute nach weiteren fürchterlichen israelischen Angriffen sein?), ich werde überall freundlich begrüßt und beschenkt.

Zum Besuchsprogramm gehört Nusirat, ein weiteres Flüchtlingslager, in der die Gruppe New Horizons uns Debkatänze und Rollenspiele zeigt.  Sie hilft Jugendlichen aus ihrer Perspektivlosingkeit.  Auf einer Rundfahrt zeigt man uns das Rachel Corrie Memorial, zerstörte Fabriken und ein neurologisches Krankenhaus, das viele Opfer israelischer Angriffe behandelt. Sehr bewegend sind Besuche in Familien von "Freedom Fighters", andernorts auch "Terroristen" genannt, die israelischen Vergeltungsaktionen zum Opfer fielen. Wir spüren hier keinen Hass, aber tiefe Trauer und Verzweiflung.

Auch ein Empfang im Parlamentsgebäude ist für uns vorbereitet.  Viele Abgeordnete fehlen - sie befinden sich in israelischen Gefängnissen, nur ihre Bilder hängen an der Wand. In israelischen Gefängnissen befinden sich auch die Tausende, zu deren Freilassung Familienangehörige in und vor dem Roten Kreuz- Gebäude demonstrieren. Auch sie fordern ein Ende der Besatzung (Bild links).

An einem Abend demonstrieren wir mit Kerzen vor der Gedenkstätte für die Opfer der Belagerung und ich singe zur Gitarre - die in Gaza bleibt - die vierte Strophe eines irischen Volkslieds (The Town I Loved so well) in einer für Gaza leicht angepassten Version.

 

Der Abschied ist traurig. Wir müssen viele Menschen zurücklassen, die gerne mit uns gekommen wären. Studenten sprechen mich an, die ein Stipendium für ein Studium an einer deutschen Universität bekommen haben, aber das Gefängnis Gaza nicht verlassen können. Hanije kommt, um uns den palästinensischen Pass zu überreichen. Verwenden kann ich ihn nicht. Er wird mir in Zukunft kaum helfen, nach Gaza auf normalem Wege einzureisen. Die Schlüssel nach Gaza liegen in Israel.

 

Boote begleiten uns zum Hafen hinaus. Auf einem der Boote sitzt Vik, die palästinensische Fahne schwingend. Er wird in Gaza zurückbleiben. Ich werde Vik ein letztes Mal 2009 beim Gazafreedommarch in Kairo wiedersehen, im darauf folgenden Jahr wird er in Gaza ermordet.