Gemeinsam für Verständigung und Versöhnung
„Wir begegneten uns als Feinde, die miteinander reden wollten.“
Bassam und Rami stehen stellvertretend für andere Mitglieder von Parents Circle Families Forum/PCFF, einer NGO, in der Israelis und Palästinenser vertreten sind, die ein Familienmitglied durch feindliche Gewalt verloren haben. Bassam und Rami haben ihre Töchter verloren
Ich lernte Rami als Passagier auf dem sogenannten Jüdischen Boot nach Gaza kennen. Nach der Lektüre des Hybridromans Apeirogon verstärkte sich unser Kontakt. So entstand die Idee, Bassam und seinen Freund Rami nach Deutschland einzuladen. Es fanden sich Gastgeber aus vielen Orten Deutschlands. Unterstützt wurde die Reise von der Friedrich Ebert-Stiftung, dem Verlag Rowohlt sowie lokalen Sponsoren, vor allem Einrichtungen der christlichen Kirchen. Für die Schweiz und der süddeutschen Stadt Freiburg übernahm Jochi Weil mit der Gruppe Ina Autra Senda ("Ein anderer Weg"), Unterstützer der NGO Combatants for Peace/CfP, die Organisation der Reise. Vom Erfolg der Veranstaltungen legt die Fotogalerie Zeugnis ab |
Fotos aus den Veranstaltungsorten
(erschienen in Jüdische Zeitung, Juni 2013)
Aus der Sicht des Kindes? Das Neugeborene sieht nicht, hört nicht, empfindet nicht. Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war diese Meinung weit verbreitet. Dann sprach ein französischer Geburtshelfer zu den zukünftigen Eltern. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern, die nur um ein Thema kreisen: die Psyche des Neugeborenen. Im Folgenden soll aus einem dieser Bücher zitiert werden: Der sanfte Weg ins Leben von Frederick Leboyer.i
Nach eigenen Worten verdankt der „Vater der sanften Geburtsmedizin“, wie Leboyer häufig genannt wird, seine Einsichten der Psychoanalyse: „Geht man in der Psychoanalyse sehr tief, bringt sie einen zurück zur eigenen Geburt. Vorher hatte ich nur Augen für die Frau und ihre Situation, doch als ich in der Psychoanalyse die Ängste meiner eigenen Geburt wieder erlebte, rückte das Kind in mein Blickfeld. Auf einmal sah ich diese wachen Augen voller Angst.“ ii
Psychoanalytiker haben in der jüngsten Debatte wiederholt ihre Bedenken gegen die Beschneidung geäußert. Sie bezeichnen eine verletzende Intervention am Genitalorgan als ein Trauma. Ist dem so?
Der erwachsene beschnittene Mann hat keine Erinnerung an das Erlebnis seiner Beschneidung im Säuglingsalter. Darum meint er als Befürworter des Rituals nicht selten, sein subjektives Empfinden, „mir hat die Beschneidung nicht geschadet“, liefere das beweiskräftige Argument gegen die vorgebrachte Kritik der Kindesschädigung. Und der Säugling selber spricht nicht. Wirklich?
„Passt auf, seht hin“, sagt Leboyer zur Sprache des Neugeborenen: „Diese tragische Stirn, diese geschlossenen Augen, diese erhobenen oder zusammengezogenen Brauen … Dieser brüllende Mund, dieser Kopf, der nach hinten rutscht …Diese ausgestreckten Hände, die betteln und flehen, dann aber in einer Unglücksgebärde zum Kopf geführt werden …Diese zornig strampelnden Füße, diese Beine, die den zarten Bauch schützen möchten …Dieses Fleisch voller Krämpfe, Reflexe, Zuckungen …Es spricht nicht, das Neugeborene? Sein ganzes Wesen schreit, sein ganzer Körper brüllt: „Fasst mich nicht an! Fasst mich nicht an!“ Und gleichzeitig bettelt, ja fleht es: „Verlasst mich nicht! Helft mir doch! Helft mir!“ … Das Neugeborene spricht nicht? Nein, nein. Wir sind es, die nicht zuhören.“ [12/13]
Der Psychotherapeut Matthias Franz sagt zu der „Sprache“ des Säuglings im Akt der Beschneidung, „Bei einem Neugeborenen rast das Herz, es schreit kläglich, zeigt eine schmerzverzerrte Mimik, Stresshormone werden ausgeschüttet. Es sind auch anhaltende Stressfolgen nachweisbar.“ iii
Die hebräische Literatur weiß von einem neugeborenen Kind, das nicht schreit. Im Roman Schweigen von Joshua Sobol beschließt der Protagonist im Alter von acht Tagen, ausgelöst durch den Schock der rituellen Beschneidung, zu schweigen. Im Alter von 80 Jahren blickt er auf sein Leben zurück und ergreift damit erstmals das Wort. Was er spricht, liest sich in der Erzählung wie eine Wiedergabe aus dem Unbewussten: „Unklar ist, ob es Tag oder Nacht ist. (…) Jemand, der auf einem Stuhl sitzt, dessen Rückenlehne gegen die kurze Querseite des großen Tisches zeigt, hält mich zwischen seinen Knien auf einem weißen, weichen Tuch und spreizt mit den Händen meine Beine. Und ich bin nackt, das heißt, ich habe nur ein Hemd mit langen Ärmeln am Körper. Aber vom Bauch an abwärts bin ich nackt. Und vor mir steht der Schächter. Ich sehe seinen Bart, und ich sehe das Messer in seinem Mund. Hinter seinem Rücken drängen sich hochrote Gesichter und äugen auf mich herab. Glotzen. Grinsen. (…) Ich verstehe jedes Wort, das gesagt wird. Sie sprechen über mich. (…) Die Leute um mich herum reagieren mit Entzücken. Und dann geschieht etwas, an das ich mich nicht erinnern und das ich nicht vergessen kann. Der Schächter beugt sich über mich und greift sich das Fleisch zwischen meinen Beinen. Er zieht und zieht irgend etwas wie aus meinem Bauch, und dann zwickt er mich kräftig. Ich will den Mund aufmachen und sagen, er soll mich in Ruhe lassen und mir das nicht antun, aber zu sprechen hat keinen Sinn.“ [17]iv
Sobols Protagonist schreit sein Leid und seine Angst nicht heraus. Er zieht sich schweigend zurück, „ hat niemals jemandem gehört“ und niemand gehört ihm seit dem Tag, an dem sich der Schächter zwischen seine Beine beugte. [24] Eine Trauma-Verarbeitung in einer empathischen Umgebung kann nicht stattfinden und das Bild des „Schächters“ zwischen den gespreizten Beinen kehrt, mit der Heftigkeit der primären Empfindung, immer wieder.
Auch Leboyer erinnert an die Intensität der Sinneserfahrungen kleiner Kinder, deren Privileg darin besteht, „alles tausendmal intensiver zu empfinden als wir“. [8] Der Sinneseindruck der Neugeborenen ist ungefiltert, ungeordnet, total. Die Sinne der Erwachsenen hingegen haben alle Feinheit, alle Sensibilität, verloren. [114] Das gilt insbesondere für den Tastsinn. Die Haut des Neugeborenen verfügt über eine Sensibilität, von der wir uns keine Vorstellung machen können. Durch die Hände spricht man zum Baby, verständigt man sich mit ihm. Berühren ist die Ursprache, sie geht der ‚anderen’ bei weitem voraus. [96] Die starken, warmen und rauen Hände, die sich in Sobols Erzählung am Genitalorgan des Neugeborenen zu schaffen machen, sind nicht die Hände, von denen Leboyer spricht: leicht, und doch schwer vom Gewicht ihrer Zärtlichkeit. Und von ihrer Stille (…) Friedenshände. [106]
„Friedensbund“, ‚Brit Schalom’, heißt eine alternative Zeremonie zur „Brit Mila“, dem ‚Bund der Beschneidung, die vor allem in Nordamerika immer mehr Zulauf erhält, und dies keineswegs nur oder hauptsächlich von säkularen Juden. Es sind Rabbiner und Rabbinerinnen, die im Bewusstsein des Symbolgehalts des biblischen Gebots auf die Gewaltanwendung durch das Skalpell verzichten. Nach jüdischer Tradition ist die Beschneidung nicht gleichzusetzen mit der Aufnahme in den Bund Gottes, sie ist lediglich ein Zeichen dafür, und Zeichen dürfen sich, zumindest nach reformjüdischer Ansicht, in ihrer Ausgestaltung der zeitlichen Entwicklung anpassen.
Im 19. Jahrhunder bezeichnete der Reformrabbiner Abraham Geiger die Beschneidung einen barbarisch blutigen Akt. Aber auch in unserer Zeit, mit der Möglichkeit der Betäubung, bleibt sie ein qualvolles Ritual. Auch nach einer Betäubung, die ohnehin für das Neugeborene einen widernatürlichen Eingriff darstellt, bleibt der Wundschmerz noch tagelang bestehen. Und wie das Unbewusste mit dieser Gewaltanwendung umgeht, ist schwer zu sagen. Sobols Protagonist schöpft aus diesem, wenn er das Beschneidungserlebnis in die Nähe einer Todeserfahrung rückt. Der Beschneider ist in seiner Sprache, die er als 80-jähriger findet, nicht der Mohel, sondern der Schächter. Es ist derjenige, der den Tieren die Kehle durchschneidet.
Der Roman endet mit einer positiven Erfahrung von Todesnähe. Die Marterinstrumente der Beschneidung sind für den sterbenden Vater des Protagonisten die Gerätschaften, mit denen er an das Bett gefesselt ist, die Riemen, die Schläuche, die Nadel. Der Vater bittet wiederholt und inständigst den Sohn, diese zu entfernen. Als der Protagonist nach schweren Konflikten endlich dem Wunsch des Vaters entspricht und die Instrumente der Qual entfernt, findet er zu den ersten eigenen Worten: „Wir sind frei“. Aber er spricht sie nicht aus. Die Vater-Sohn-Identifikation machen Worte überflüssig. Das Ohr an den Mund des Vaters gelegt, vernimmt er das Wort: „schweig“.
Die feierliche, friedliche Stille am Sterbelager des Vaters „unter dem Fenster inmitten blühender Zitrusplantagen“ [332] weckt ein letztes Mal das Bild der Beschneidung. Das friedliche Bild mit der Symbolik des blühenden Lebens hat hier das Bild des „Schächters“ ersetzt. Es ist die gleiche friedlich feierliche Stille, an die Leboyer für die Geburt eines Kindes denkt. Ermöglicht wird sie in beiden Fällen durch die Änderung von Gepflogenheiten. Liebe hat den Wechsel ermöglicht. Ohne sie wäre auch der Bund zweifelhaft.
(erschienen in Die Christengemeinschaft, Dez. 2016)
Tanz in der Bibel? „Ach, du meinst den Tanz der Salome“. Spricht man in seinem Umfeld beiläufig das Thema an, drückt die Reaktion oft Verwunderung und Unkenntnis aus. Was die Bücher des „Alten Testaments“ betrifft, beschränkt sich die Kenntnis bei der Mehrheit der Angesprochenen auf den „Tanz um das goldene Kalb“ im zweiten Buch Mose. Bibelkundige wissen noch zwei oder drei Tanzbeispiele mehr zu nennen, - etwa den Tanz des Königs David vor dem heiligen Schrein (der „Bundeslade“) oder den Reigentanz der Mirjam -, aber im Allgemeinen wird dem Tanz in der Bibel keine sehr große Bedeutung beigemessen. Das ist auch nicht verwunderlich, jahrhundertelang haben sich Kirchenführer in ihrer Ablehnung des Tanzes auf Negativbeispiele in der Bibel bezogen. Angetrieben wurde die Ablehnung vor allem durch die kirchliche Absage an Sexualität und Erotik. Ein Höhepunkt der Ächtung trat mit der Reformation ein. Tanz wird von Reformatoren als eine Geilheit bezeichnet, „welche keuschen Leuten nicht gebührt“.[1] Die beliebten, vielfach sexuell motivierten Reigentänze – wie der Tanz um den Maibaum - werden, so sie nicht abgeschafft werden können, von „anrüchigem“ Liedgut gereinigt. Auch das bekannte Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ ist beispielsweise eine Folge solch verwandelten Liedguts. Dabei hätten die Reigentänze biblische Vorbilder gehabt – wenn sie nicht sogar durch diese beeinflusst sind.
„Die Bibel kennt kein Tanzen im Gottesdienst“, meint der evangelikale Publizist Alexander Seibel. Dem widersprechen alttestamentarische Wissenschaftler. Der Tanz gehörte in biblischer Zeit so selbstverständlich zum Kult der Religion, dass er keiner besonderen Erwähnung bedurfte. Besondere Erwähnung finden nur außergewöhnliche Vorkommnisse. Sehr ausführlich geht darauf die noch immer empfehlenswerte Studie von W.O.E. Oesterley, Sacred Dance in the Ancient World (1923) ein. Auch der reichhaltige Wortschatz für das Wortfeld „tanzen“ ist ein Indiz für die Beutung des Tanzes, wobei der sakrale Charakter zu überwiegen scheint. Eine strikte Trennung in sakrale und nichtsakrale Tänze ist jedoch nicht möglich, da auch das Alltagsleben von Religiosität, mal mehr, mal weniger, durchdrungen ist. Es stellt sich immer die Frage, inwieweit nicht auch der pure Freudentanz mit Religiosität verbunden ist. Die unterschiedlichen Formen im Gebrauch für das Wort „Tanz“ oder „tanzen“ können mitunter Hinweise geben.
Zu den biblischen Ausdrücken für „tanzen“ zählt das Verb „chagág“, hergeleitet aus „chag“ ‚Fest, Feier’.[2] Wo im Orient gefeiert wird, wird auch getanzt. Es scheint die älteste Form für den Hinweis auf einen sakralen Tanz zu sein. Sprachwissenschaftler führen „chagág“ auf „umkreisen“ zurück. In biblischer und vorbiblischer Zeit wurde im sakralen Tanz der Völker des Orients ein sakraler Gegenstand – ein Baum, eine Quelle, ein Stein – oder auch ein bestimmtes Opfer umkreist (s. den noch heute gepflegten Brauch des siebenmaligen Umkreisens der Kaaba in Mekka unter dem verwandten Namen „Hadsch“, linguistisch Ḥaǧǧ). Die ursprüngliche Bedeutung als „umkreisen zwecks Heiligung“ spricht Psalm 118 an. Nach der Einheitsübersetzung fordert Vers 27 auf, „Mit Zweigen an den Händen/ schließt euch zusammen zum Reigen,/ bis zu den Hörnern des Altars!“ Luthers Übersetzung „Schmückt das Fest mit Maien“ drückt Ähnliches aus. Beide Varianten erinnern an den uralten Brauch des Reigens mit gewundenen Kränzen, ursprünglich ein sakraler Reigen, von vielen Völkern gepflegt, der sich rudimentär noch bis in die Gegenwart als gesellschaftliches Brauchtum erhalten hat. Ein Erbe des Reigens im Tempel von Jerusalem ist der Rundgang mit dem Feststrauß im heutigen Synagogengottesdienst zum Ende des Laubhüttenfests. Dass er in der Tradition israelitischen Brauchtums zur Zeit der Bibel steht, geht aus postbiblischem jüdischen Schrifttum (Mischnah, Sukkah) hervor: Nachdem die Opfer dargebracht wurden, gingen die Priester in einer Prozession, den Psalm 118 singend, um den Altar herum. Am siebten Tag umkreisten sie ihn siebenmal.
Eine sakrale Bedeutung des Verbs „chagág“ haftet ihm auch dann noch an, wenn der Rahmen nicht an ein Heiligtum gebunden ist. Der Tanz ist auch Mittel für die Feier militärischer Siege, denn es ist ihr Gott, der den biblischen Völkern Sieg (oder Niederlage) beschert. So findet David die Amalekiter (Samuel 30, 16) nach der Übersetzung Bubers „essend und trinkend und rundreihend um all die Beute“ (die Übersetzung anderer Bibelausgaben „aßen und tranken und feierten“ ist tautologisch; zu einer Feier gehörten essen, trinken und tanzen).
Siegestänze wurden im Allgemeinen von Frauen getanzt – es waren ja die Helden des Krieges, die geehrt werden sollten. Während der Reigen, den Miriam im Mythos anführt (Exodus 15, 20-21) ganz dem Gott JHWH gewidmet ist, ist eine solche im Reigen von Jephtas Tochter (Richter 11, 34) nicht erkennbar. Hier steht die Frage des Gelübdes und der Opferung im Vordergrund der Erzählung. Im Reigentanz, den die Frauen Israels zu Ehren Judiths in der gleichnamigen apokryphen (nicht zur hebräischen Bibel gehörenden) Schrift aufführen, ist von einem Lobgesang Gottes zwar nicht den Rede, wohl aber im „Festreigen der Frauen“, den Judith selber anführt“. Sie preist den Gott Israels, der ihr die Kraft gab, den feindlichen Kriegsherrn zu überlisten. Der Leser erfährt hier auch Näheres über das Auftreten der Reigentanzenden: Die Tänzerinnen sind mit Laubkränzen geschmückt; auch die Waffen tragenden Tänzer sind mit Kränzen geschmückt. Sie folgen den Frauen. Männer und Frauen tanzen den Reigen, wie bei den Völkern des Orients üblich, getrennt.
Der nur von Frauen begangene Festreigen ist in der hebräischen Bibel durch das Verb „chul“ oder dem entsprechenden Substantiv „Mecholáh“ angesprochen. Die Häufigkeit des Vorkommens mag daran erinnern, dass in vorbiblischer Zeit Tänzerinnen die Aufgabe der Huldigung ihrer Gottheit vertraten. Mirjam, Jephtas Tochter, die Frauen von Schilo, die Schulamith des Hohelieds und die tanzenden Frauen im Buch Samuel tanzen eine Mecholáh (oder im Plural: „Mecholót“). Der Kreistanz der Männer („Machól“) ist durch Tanzschritte anderen Charakters bestimmt. Biblische Ausdrücke für das Tanzen unter Männern sind „rikéd“ (hüpfen, springen, tanzen) oder „pisséch“ (springen, humpeln, tanzen). Auch wenn die Bibel von „dilég“ (springen, überspringen) oder „kipétz“ (springen) spricht, muss an einen „männlichen“ Tanzschritt gedacht werden. Dieser ist durch die Senkrechtbewegungen (Aufwärts-Abwärtsbewegungen) bestimmt, während der Frauentanz durch Rundungen charakterisiert ist.
David ist wahrscheinlich der bekannteste Tänzer der Bibel. Seinen Tanz beschreibt das Buch Chronik (1, 15) mit dem Verb „rikéd“, aber es steht nicht alleine da. Es ist verbunden mit „ssichék“ (Spaß treiben, spielen, tanzen). „Ssichék“ taucht dort auf, wo der Tanzende Freude empfindet, aber sein Tanz nicht zwangsläufig an die rituelle Norm gebunden ist. Der „heilige Charakter“ des Tanzens kann ausgeklammert bleiben oder auch in den Augen des Betrachters verletzt werden. Im Tanz um das goldene Kalb wird dem „falschen Ritus“ gehuldigt: es ist nicht JHWH, den die mit „ssichék“ beschriebenen Tanzenden verehren, obwohl es doch ein Fest zu seinen Ehren sein sollte. Der Tanz Davids wird auch in einem anderen Buch der Bibel angesprochen. Das zweite Buch Samuel beschreibt ihn ebenfalls mit zwei Verben unterschiedlichen Charakters. Pissés“ bedeutet ähnlich wie „rikéd“ hüpfen, und das zweite Verb, „kirkér“, gibt die Bibelübersetzung nach Buber/Rosenzweig mit ‚drehen’ wieder: „Dawid selbst drehte mit aller Kraft sich vor IHM, Dawid selbst, mit einem Linnenumschurz gegürtet (Samuel II, 14). Die Tanzform, die vielleicht wie das Verb aus dem Nordkanaanäischen (Ugaritischen) stammt, schien dem Jahweh-Kult fremd zu sein. Davids Tanz scheint der Tanzform ähnlich, die auch die zahlreichen Prophetenjünger gebrauchten, um in Ekstase zu geraten. Vermutlich hielt Davids Frau Michal den ekstatischen Tanz mit der Ablegung der Bekleidung eines Königs unwürdig. Aber auch Michals Vater, König Saul, erfuhr Ekstase im Tanz. Von ihm sprachen die Umstehenden: „Ist Saul etwa auch unter die Propheten gegangen?“ (Samuel I, 10, 11). Das erste Samuelbuch bekundet, wie groß die Anhängerschaft der tanzenden Propheten war und wie ansteckend der ekstatische Charakter des Tanzes.
Unter den semitischen Religionen erfuhr der ekstatische Tanz prinzipiell keine Ablehnung. Er wurde auch als ein Akt der Hingabe an den Gott verstanden und lebt heute noch fort in den Derwischtänzen der Sufis. In schärfste Kritik geriet der ekstatische Tanz unter den Hebräern jedoch dann, wenn er mit Selbstkasteiung und Verletzung unter Trance einherging, so wie es bei den Baalsjüngern üblich war (Könige I, 18, 27). Gesellschaftlich fest verankert hingegen war der Freude vermittelnde Reigentanz, der zu jeder festlichen Gelegenheit getanzt wurde und von dem der Prophet Jeremia allegorisch spricht: „Maid Jisrael, wieder schmückst du mit Pauken dich und fährst aus in der Spielenden Reigen.“ (Jeremia 31,4, nach Buber/Rosenzweig; mit „Pauken“ sind Handtrommeln gemeint, die zu allen Reigentänzen geschlagen wurden).
Das Bild der tanzenden jungen Mädchen ist aus der biblischen Gesellschaft nicht wegzudenken. Noch stärker führt das postbiblische Schrifttum dieses Bild vor Augen, wenn es von den freudigen Tänzen zu den Weinlesefesten in den Weinbergen, zum Fest der Tag- und Nachtgleiche, zum Laubhüttenfest und selbst zum Versöhnungsfest berichtet. Dass Männer und Frauen getrennt tanzten, deutet nicht auf Sexualfeindlichkeit, im Gegenteil. Man ging zum Tanzplatz anlässlich sakraler Festlichkeiten auch auf „Brautschau“ (vgl. Richter 21, 19-21) und umgekehrt zeigten werbende Tänzer den jungen Mädchen, was sie anzubieten hatten.
Am häufigsten Erwähnung findet der biblische Tanz in den Psalmen, entweder als sakraler Ritus für die Männer mit dem Verb „ssaváv“ (umkreisen) oder in der Form des Reigentanzes, „machól“. Schwierigkeiten bereitet die Übersetzung dort, wo die Verbform „chol“ mehrdeutig ist. „Chol“ kann ‚reigentanzen’, ‚winden’, ‚sich winden’ oder auch ‚beben’ heißen (Psalm 96,9; 97,4; 114,7). Kommentare zu den Psalmen aus den letzten Jahrzehnten zeigen, wie uneinig die Übersetzer sind. Angesichts der Freude, zu der in den genannten Psalmen die Erde aufgerufen wird, erscheint eine Aufforderung zu „beben“ wenig sinnvoll. Der Theologe Norbert Lohfink argumentiert eindrücklich für eine Übersetzung „tanze“ in Psalm 114. Viele sind ihm mittlerweile gefolgt. Auch die Bibel in gerechter Sprache fordert die Erde zu tanzen auf. Martin Buber hat bei seiner Übersetzung „winde dich, Erde“ (114,7) vielleicht an den traditionellen Reigentanz gedacht, bei dem Kränze gewunden werden. Dass im gleichen Psalm die männliche Tanzform des Hüpfens angesprochen wird, rückt ihn näher an die Hochzeits- und Vereinigungssymbolik. Diesem Gedanken folgend könnte der Psalm männlich-weibliche Vereinigung mit der Gottheit ansprechen, die Vereinigung „im Angesicht der Gottheit Jakobs“ (Bibel in gerechter Sprache).
Die beiden letzten Psalmen rufen noch einmal deutlich zum Lobgesang mit dem Reigentanz, „Machól“, auf (149, 3; 150, 4). Alle den Lobgesang begleitenden Instrumente, ohne Rücksicht auf deren Verwendung durch männliche oder weibliche Spieler werden aufgeführt. Geschlechtlichkeit scheint aufgehoben: „Aller Atem preise oh ihn“ (Buber/Rosemzweig) so endet der den Psalter beschließende 150. Psalm. Martin Luther nannte den Psalter auch „Die kleine Biblia“. Unbeabsichtigt gibt er damit zu erkennen, welche hohe Bedeutung der Tanz trotz seiner zahlenmäßig geringen Aufführung an anderen Stellen in der Bibel hat. Tanz in der Bibel ist ein Festreigen, zu dem alle eingeladen sind. „Den Festreihn wahre“, gebietet das Buch Exodus (23, 15 nach Buber/Rosenzweig) zu den bekannten Festen des Jahres, - das heißt letztlich, zu jeder „geweihten Nacht“.
- Vortragstext (leicht geändert) innerhalb eines öffentlichen "Friedensgebets" am 3.9.2013 (jüdisches Neujahrsfest) in Bonn -
Die Erzählung von der Bindung Isaaks (Genesis 22) - ein Mythos? Diese Ansicht ist nicht ungewöhnlich. Sie gewinnt Unterstützung durch den Vergleich mit dem mythischen Zirkel (> Der Mythische Zirkel). Doch fallen im Vergleich mit diesem auch Besonderheiten auf, die sie von anderen Mythen unterscheiden.
Wenn Abraham der Mythenheld ist, welche Rolle könnte Isaak in der mythischen Erzählung spielen? Könnten beide, Abraham und Isaak Symbolgestalten sein? Wie im Volksmärchen vielleicht?
Im Märchen können Personengestalten verschiedene geistige Entwicklungsstufen des Menschen bedeuten. Vom Vater sagt man beispielsweise, er symbolisiere die gereifte Persönlichkeit; der Sohn, das geistig sich noch entwickelnde Ich des Menschen.
Mythen sind vielschichtig und lassen verschiedene Deutungen zu. Auf der Basis des mythischen Zirkels und anhand des hebräischen Textes soll hier eine Auslegung der Geschichte versucht werden.
An Abraham ergeht ein Ruf: "Avraham", und dieser antwortet mit einem Ausdruck der Geistes-Gegenwart, dem gleichen Ausdruck, mit dem auch biblische Propheten antworteten: "Hinéni", 'da bin ich'. Ein Dialog hat begonnen. "Nimm doch deinen Sohn" - deinen einzigen - den du liebst - den Jizchak, - was ist das für ein Wesen, zu dessen Bestimmung die göttliche Stimme vier Bezeichnungen gebraucht, von denen eine zumindest, nach biblischem Bericht, falsch anmutet: Isaak - der einzige Sohn?
Die Aufforderung "kach-na", 'so nimm doch', ist eine zu zärtliche, um ein Befehl zu sein. Abraham könnte - das heißt, sein Verstand könnte - ihn ablehnen oder zumindest nach dem Grund fragen. Aber wie der Held der mythischen Reise, der die Verstandesebene zugunsten der Bewusstseinserweiterung verlassen hat, kann Abraham nicht anders, als das zu tun, was von ihm erwartet wird: in das Land gehen, das ihm gezeigt werden wird. "Lech l-cha", wird Abraham angewiesen, und das bedeutet in der Übersetzung nicht nur 'gehe', sondern vielmehr 'gehe zu dir (selbst)'. Das Land "Morijah", was auch wörtlich so viel heißen kann wie 'Gott zeigt dir' oder 'Gott lehrt dich', ist demnach keine geographische Dimension. Abraham findet diesen Ort in seinem Innern. Ein "Fest der Er-innerung" wird in der Bibel das Neujahrsfest auch genannt.
Abraham begibt sich wie ein Mythenheld auf den Weg aus der Welt der Vielheit in die der Einheit. Symbolisch wird dieser Weg durch den Aufstieg auf den Berg wiedergegeben, - der Berg, seit altersher ein Symbol der Verbindung zwischen Himmel und Erde. Auch in Zahl und Reihenfolge der Schofartöne (Schofar = [Widder-] Horn), die zum Neujahrsfest ertönen, ist die Symbolik der Vielfalt in der Einheit angesprochen: ein einziger ausgehaltener Ton umrahmt in gleicher Länge jeweils eine Serie unterbrochener Töne - insgesamt hundert Töne.
"Erhöhe ihn" - den Jizchak - "dort zu einer Darhöhung" (Übersetzung nach Buber). Sehen wir Isaak als eine Symbolfigur für das Ich des Menschen an, dann soll dieses Ich auf eine spirituell höhere Stufe gebracht werden, näher zu Gott, - das hebräische Wort for Opfer, "korban", heißt wörtlich 'Darnahung', 'Näher bringen'.
Abraham macht sich auf den Weg zu dem heiligen Ort - "makom", der 'Ort', ist ein traditionelles Synonym für 'Gott'. Abraham geht zusammen mit seinem Sohn und den Symbolträgern der dualistischen Welt: den zwei Knaben und dem gespaltenen Holz auf dem Rücken des Esels.
Am dritten Tag der Wanderung (der "dritte Tag" bezeichnet im Mythos gewöhnlich die Stelle, an der Einheit und Zweiheit zusammen) - den "makom", den 'Ort' aus der Ferne erblickend - trennt sich Abraham von den Symbolfiguren der dualistischen Diesseitswelt. Nicht ganz. Er weist seine beiden Knaben an, mit dem Esel zurückzubleiben und fährt fort: "ich und der Knabe" - der Text verwendet hier für Jizchak das gleiche Wort: Knabe - "wollen dahin gehen" (Bubers Übersetzung "bis drüben gehen" weist noch deutlicher auf ein Grenzerlebnis).
Die zwei, "schnejhem" gehen einheitlich zusammen (das hebräische "zusammen" enthält das Zahlwort "eins"). Dieser Satz wird noch einmal nach dem kurzen Dialog zwischen den beiden wiederholt und bereitet sprachlich das Einheitserleben vor.
Anders als in vielen anderen Mythen verliert sich das Ich nicht in der Vereinigung mit Gott, es findet keine "Unio mystica", keine 'heilige Hochzeit' statt. Isaak wird nicht geopfert, das Ich des Menschen wird nicht aufgegeben, aber es ist durch die Begegnung mit dem Göttlichen ein anderes geworden.
Fast sah es so aus, als hätte dieses Ich geopfert werden müssen - so wie keine Ich-Du-Beziehung in Raum und Zeit bestehen kann, das Feuer würde das Ich verzehren. Wie Martin Buber sagt (Das dialogische Prinzip):
"In bloßer Gegenwart lässt sich nicht leben, sie würde einen aufzehren, wenn da nicht vorgesorgt wäre, dass sie rasch und gründlich überwunden wird."
Der Engel und der Widder stehen in der Geschichte der Bindung schon bereit, damit das Ich in Raum und Zeit leben kann. Abraham kehrt zu den Knaben wieder in seine gegenständliche Alltagswelt zurück. Und er kann - auch der Abraham unserer Tage kann - Zeugnis ablegen von der göttlichen Begegnung. Und er kann, wie ein Mythenheld, mit dem geretteten Ich das Elixier in die Welt tragen. Ein Elixier erwähnt die Isaakgeschichte nicht. Aber was sollte es anderes sein als die Liebe?