Dass die biblische Geschichte des Durchzugs der „Kinder Israels“ durch das „Rote Meer“ keine exakten historischen Begebenheiten widerspiegelt, ist nicht erst seit dem Erscheinen des Buches Keine Posaunen vor Jericho (Finkelstein/Silberman) bekannt. Doch konnten die neueren archäologischen Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgestellt werden, die Ansichten derer stärken, die in der Geschichte des Exodus einen Mythos sehen. Mythenforscher weisen darauf hin, dass allen Mythen der Welt eine ähnliche Struktur zugrunde liegt, die sich in etwa folgendermaßen widerspiegelt: An den Mythenhelden ergeht ein Ruf zu einem Aufbruch, dem er folgt. Gewöhnlich wird er zu einer Wanderung aufgerufen. Auf dieser gelangt er bald an eine Schwelle, die er unter dramatischen Herausforderungen passiert. Auf dem Höhepunkt seines Weges, auf dem er Prüfungen bestehen muss, aber auf dem ihm auch Helfer zur Seite stehen, erwartet ihn die Begegnung mit der Gottheit. Von ihr erhält er ein Elixier, das er der Welt nach seiner Rückkehr mitbringt. Für seine Rückkehr muss er abermals eine Schwelle überschreiten. Die Wanderung jenseits der Schwelle stellt sich als eine Wanderung durch das Unbewusste dar.
Die biblische Exodusgeschichte ließe sich als ein solcher Mythos – hier im Diagram nach Campbell - folgendermaßen darstellen (selbstverständlich ist das Diagram nur als Erkenntnishilfe zu verstehen für Vorgänge, die eine grafische Darstellung an sich ausschließen):
Dem Ruf aus dem brennenden Dornbusch folgt der Übergang über die Schwelle. Häufig wird im Mythos der Schwellenübergang durch ein Gewässer dargestellt. Im Mythos Exodus stellt die Schwelle das Schilfmeer dar, besser bekannt unter dem Namen „Rotes Meer“. Der hebräische Name für das Schilfmeer, „Jam Suf“, wörtlich ‚Meer des Endes’, verweist deutlich auf den Übergang zu einem neuen Leben. Der Mythenheld lässt die Welt seiner bisherigen Erfahrungen hinter sich. Er durchwandert den ihm unbekannten Bereich des Unbewussten und kehrt nach Passieren der Schwelle gleichwie ein Neugeborener in die alte Welt des Bewusstseins zurück. Das Motiv der Wiedergeburt ist in den kanaanitischen Frühlingsfesten enthalten, die der biblischen Heilsgeschichte als Fundament dienten und in der jüdischen Pessachfeier und dem späteren christlichen Osterfest einen Ausdruck fanden.
Der Bilderreichtum der Mythen, Metaphern, Zahlensymbolik und Wortspiele finden sich auch im Exodus-Mythos, doch werden letztgenannte oft nur aus der Originalsprache erkennbar. So steht das Land Ägypten nicht als geografische Wirklichkeit im Vordergrund (auch wenn ägyptische Eroberungspolitik dem kleinen Landstreifen mitunter hart zusetzte), es ist vielmehr der symbolische Gehalt des Wortes „Mizrajim“, übersetzt ‚Ägypten’, das der Mythos verwendet. Mizrajim ist verwand mit „Mezarim“, ‚Bedrängnisse’ und die Endung „ajim“ als eine Dualendung könnte auf die dualistische materielle Welt verweisen. Denn diese lässt der Mensch zurück, wenn er die Schwelle passiert, vom Bewussten in das Unbewusste, von der materiellen in die geistige Welt, oder auch vom Leben in den Tod. Die im Meer Ertrinkenden, die Ägypter, sind seine Ängste und Bedrängnisse, seine Abhängigkeiten vom Materiellen und - mit Pharao, dem mächtigsten Ägypter, so scheint es, – sein Ego.
Das „Meer des Endes“, das immer zugleich auch einen Neuanfang bedeutet, erscheint in der biblischen Geschichte noch einmal auf einer anderen Erzählebene. Wie die Odyssee (die im gleichen Zeitraum redigiert wurde wie das Buch Exodus) sich in einzelne mythische Geschichten aufteilen lässt, so lässt auch „Exodus“ sich in mehrere Geschichten aufteilen, die mit dem gesamten Zyklus in Verbindung bleiben, die sozusagen einen kleinen mythischen Erzählkreis innerhalb des großen bilden. Eine dieser Geschichten beginnt mit der letzten der zehn Plagen, die uns die Schwelle als die Türschwelle vor Augen führt. Die hinter der Schwelle wohnenden „Ebräer“ – übersetzt die ‚Jenseitigen’ – sterben nicht. Der Todesbote erkennt das Zeichen des Übergangs: das Blut, an die beiden Pfosten und an den Türsturz gestrichen, und zieht vorüber (man beachte die in der Bibel mehrfach anzutreffende Zahlensymbolik der „3“, zusammengesetzt aus der „1“ und der „2“ als dem symbolischen Ort des Zusammentreffens der Einheit mit der Dualität an der Schwelle). In diesem kleinen Erzählkreis bildet das Schilfmeer oder das „Rote Meer“, Jam Suf – das Meer des Endes – die Schwelle zur Rückkehr ins Leben. Der biblische Mythos zeigt eine Austauschbarkeit der Begrifflichkeiten: Anfang und Ende, Leben und Tod. Die materielle Welt der Bedrängnisse und Abhängigkeiten kann die tödliche sein, die geistige Welt die lebendige.
Schon seit längerem unterstreichen Tiefenpsychologen den allegorischen Gehalt dieser Geschichte der Befreiung „aus der Knechtschaft Ägyptens“. Ähnlich den Märchengestalten spiegeln die Handlungsfiguren der biblischen Erzählung Seelenzustände wieder. Die menschliche Seele fürchtet sich vor der Freiheit, dem Neuen; sie hält sich lieber an den sicheren „Fleischtöpfen der Ägypter“ fest. Die Seele mag zaudern wie Pharao, sie will an der gewohnten Materialität und der Macht seines Ichs festhalten und wird doch zum Aufbruch und zur Aufgabe seines Egos gezwungen. Pharao hortet materielle Güter – er baut „Proviantstädte“ – aber er kann ihnen keine geistigen Werte entnehmen und verlangt stattdessen nach mehr. Er wird süchtig nach mehr bis zur Selbstbetäubung– wie der moderne Mensch, sagt der Psychoanalytiker Gabriel Strenger (Universität Jerusalem): „Wir betäuben uns durch Überreizung wie Musik, Fernsehen und Internet, welche uns im Smartphone überallhin begleiten. Dazu kommt eine reiche Palette von Suchtmitteln – von Zigaretten über Alkohol bis zur Esssucht und Drogen aller Art. Der Konsumdrang lenkt uns vom inneren Gefühl der Sinnlosigkeit ab (…) Der ‚Hebräer’ hingegen will Gott in der Wüste dienen – der Geist braucht Ruhe, Zeit und Raum zu spüren“ (Tachles 11/04/2014).
Für eine Änderung seines Lebensstils braucht „Pharao“ die Krise, die sein gewohntes Ordnungsgefüge stufenweise zerstört. Diese Stufen stellen die Zehn Plagen dar, die in gesteigertem Maße seine Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aufdecken, bis der Zusammenbruch mit der letzten Krise, dem Schlagen der Erstgeburt, den Weg frei macht für einen Aufbruch, für eine Neuentwicklung. Auch Pharao zieht aus der Enge Mizrajims und holt die Kinder Israels („Israel“, ‚Gottesstreiter) am Schilfmeer ein (in einer weniger bekannten jüdischen Erzählung sowie im Koran ertrinkt Pharao nicht im Meer, da er Gottes Allmacht einsieht und bereut).
Der das Meer Überschreitende findet zu sich selber, zu seiner Freiheit. Er wird frei von den Abhängigkeiten, von den Mächten, die sein Leben zuvor in der Knechtschaft bestimmten. Er weiß von der Führung durch seinen Gott in der Wolken- und der Feuersäule und steht „ihm Antwort“ durch seine Taten. Er trägt Verantwortung für das Wohl seiner Mitmenschen, für eine ethische Erneuerung der Wirtschaft, für die Gesundung der Natur. Seine Verfolger, die ihm Ängste einjagten, sind im Meer versunken.