- Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte -

(erschienen in Jüdische Zeitung, Okt. 2012)

 

„Schon zum dritten Male in dem noch nicht zur Hälfte abgelaufenen Jahrzehnt ertönt die Kriegstrompete im Lager der deutschen Israeliten, zum dritten Male erschallt die Verketzerungsposaune in den friedlichen Wohnungen des germanischen Jeschurun“.1 Die Kriegstrompete, die der damalige Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinsche Landesrabbiner Samuel Holdheim zum dritten Mal hört, gilt – nach den Kontroversen um Gebetbuch und Autorität des Talmuds – der Beschneidungsdebatte in den frühen 1840 Jahren.

Zweifellos hat Holdheim den Gegnern der Beschneidungszeremonie eine Lanze gebrochen. Sie waren aufs Heftigste attackiert worden, der Ausschluss aus der Gemeinde wurde gefordert, von Zwangsbeschneidung, war die Rede. Der Oberrabbiner von Frankfurt, Abraham Trier hatte Sturm geläutet und seine Kollegen zur Verfassung von Gutachten über die Beschneidung aufgerufen. Der zunehmenden Zahl von „Beschneidungsverweigerern“ sollte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Einhalt geboten werden. Andersdenkende sind in der Sammlung des Oberrabbiners nicht   aufgenommen. Samuel Holdheim verfasste in Erwiderung einiger Beiträge seine eigene Schrift: Über die Beschneidung zunächst in religiös-dogmatischer Beziehung. Er klagt in dieser vor allem den Fanatismus an, der aus einigen der gesammelten Gutachten spricht.  Wer ihn aber uneingeschränkt im damaligen Streit auf der Seite der Beschneidungsgegner sehen möchte, wird diesem scharfsinnigen jüdisch- wie allgemeinwissenschaftlich gelehrtem Geist nicht gerecht.  Samuel Holdheim war nicht nur ein vergleichweise extremer Reformer, sondern auch ein profunder Kenner des traditionellen Schrifttums. Durch die Erziehung in einem streng orthodoxen Elternhaus und dem Besuch orthodoxer Schulen und Hochschulen war er engstens mit  rabbinischer Literatur und talmudischer Argumentation vertraut. Hier liegen die Waffen, die er in seiner Schrift gegen die, wie er meint, unmenschlich richtenden Herren Rabbiner zu Felde führt.

Für Holdheim ist die Beschneidung ein mosaisches Religionsgebot, dessen Verbindlichkeit für alle Zeiten fortdauert. Punkt. Eine Diskussion darüber ist für ihn nicht möglich. Allerdings sieht er die Beschneidung nicht als Bedingung für den Eintritt in den israelitischen Bund mit Gott an und sieht sich darin durch Bibeltext und rabbinische Bibelauslegung bestärkt. Gott habe mit Abraham „ein für alle mal einen auf alle seine Nachkommen sich erstreckenden Bund geschlossen“.  Wie sollte es sonst möglich sein, fragt er, dass die Israeliten auf ihrer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste unbeschnitten blieben, aber von Gott selbst zu unzähligen Malen Israeliten genannt und zur Verpflichtung der mosaischen Gebote angehalten wurden?  Und wodurch sollten die Frauen in den Bund treten, derer bei späteren Bündnissen (5.Mose, 29+31) ausdrücklich gedacht wird ?[8-9]

Die Frage ist nach Holdheim nicht, ob Mose die Beschneidung geboten, „sondern wie er sie geboten, welche Stellung er derselben im System seiner Gesetze gegeben“.  Es ist für ihn auffallend, dass Mose die Beschneidung nur einmal direkt erwähnt, während er jede Veranlassung benutzte, um das Gebot der Schabbatfeier als ein hochheiliges einzuschärfen und die Todesstrafe durch das bürgerliche Gericht für den dieses Gebot Übertretenden fordert.  Für die Unterlassung der Beschneidung wird weder eine bürgerliche Strafe noch eine Zwangsmaßnahme angeordnet, noch überhaupt die abrahamitische Exterminationsstrafe irgendwo wiederholt. Niemals habe Mose der Beschneidung die gleich hohe Bedeutung wie dem Schabbat zuerkannt. Andernfalls wäre es  sonderbar, dass Mose den Schabbat in den Dekalog aufgenommen hat, nicht aber das Gebot der Beschneidung. Mit den vorgetragenen Fragen und Argumenten sieht sich Holdheim zu der Annahme berechtigt, dass Moses zwar die Beschneidung als ältere religiöse Sitte für sein Volk beibehalten, „ihr jedoch keineswegs diejenige Bedeutung gegeben oder gelassen, die sie bei Abraham hatte.“ [13-14]

Die Verfechter einer strikten Einhaltung des Beschneidungsgebots verweisen damals wie heute gerne auf  die Bedeutung des Gebots im Zusammenhang mit der Pessachfeier. Für Unbeschnittene sei die Teilnahme an dieser nach mosaischer Anweisung verboten. Holdheim verweist auf zwei verschiedene Bezüge zur Pessachfeier,. Es gelte, zwischen der biblisch-ägyptischen einmaligen Pessachfeier und der zukünftigen für alle Generationen zu unterscheiden. Bei der letztgenannten wird die Beschneidung nicht als Bedingung zur Teilnahme genannt, weder in der Tora, noch in den älteren Schriften des Talmuds, der Mischna.  Für Holdheim steht daher fest, dass die Beschneidung ausschließlich für die Teilnahme an der erstmaligen ägyptischen Pessachfeier Voraussetzung war, aber nicht mehr für die zukünftigen. [15]

Nach dem Bundesschluss am Sinai  konnte die Beschneidung wohl noch als ein Zeichen des göttlichen Bundes mit Abraham gesehen werden, „aber keineswegs als ein Zeichen des göttlichen Bundes mit Israel gelten“. Das Zeichen für den Bundesschluss ist nach Holdheim nicht die Beschneidung, sondern die Lehre selbst, worunter er die Zehn Gebote am Sinai versteht und hier den Schabbat voranstellt, „der von Moses ausdrücklich ein Bundeszeichen genannt wird. Der Beschneidung konnte mithin nur die Bedeutung eines einfachen Gebotes oder einer ältern geheiligten religiösen Sitte gelassen werden.“ [16-17]

Auch die Rabbinen trennten scharf den Abrahamitischen von dem späteren sinaitischen Bund. Sie fügten als Bundeszeichen noch Taufe und Opfer der Beschneidung hinzu und gaben letzteren keinen höheren Stellenwert. Manche Rabbinen maßen in Bezug auf Konvertiten der Taufe sogar ein größeres Gewicht bei und hielten die Beschneidung für entbehrlich. Es muss also selbst vom rabbinischen Standpunkt aus angenommen werden, dass die Beschneidung keineswegs als Zeichen des göttlichen Bundes mit Israel gilt und dass sie in Bezug auf denselben so wenig Wichtigkeit hat, dass „sie weder durch ihr Vorhandensein den israelitisch-religiösen Charakter verleihen, noch durch ihr Wegbleiben denselben beeinträchtigen kann.“ Nun sind aber Taufe und Opfer entbehrlich geworden. Warum könnte es nicht auch die Beschneidung? Für einen geborenen Israeliten kann doch die Beschneidung, was die Bedingung des israelitischen Charakters betrifft, „unmöglich höher stehen und weniger entbehrlich sein als die Tevilah (Taufe).“ [18-19]

Nach talmudischen Aussagen ist auch ein Unbeschnittener ein „vollkommener Israelit“ und unterliegt mit wenigen rituellen Einschränkungen allen Verpflichtungen des Judentums. Bezüglich Beschneidung reflektiert der Talmud sehr viele unterschiedliche Meinungen.  Zu ihrer Interpretation erinnert Holdheim  an die zwei verschiedenen Wesensmäßigkeiten des Talmuds, die von Benutzern zur Untermauerung ihres Arguments oft übersehen würden. Die auf strenge Gesetzmäßigkeit bezogene Halacha ist von der der sogenannten Aggadah (wörtlich 'Erzählung'; der nichtgesetzliche Stoff) nicht immer leicht zu unterscheiden. Holdheim kritisiert seine Kollegen, die zur Beweisführung der angeblichen Besonderheit des Beschneidungsgesetzes auf den Talmud verweisen und dabei den aggadischen Charakter verkennen. Worin sollte denn die Besonderheit der Beschneidung bestehen, fragt Holdheim, da sie  hinsichtlich der Sündhaftigkeit und Strafbarkeit ihrer Übertretung mit anderen Geboten gleichgestellt wird. [22]

Ein weiterer Grund des außerordentlichen Stellenwerts der Beschneidung wurde auf den Mischnatext (Nedarim 31b) bezogen, der angibt, dass die Beschneidung den Schabbat verdränge, also die Beschneidung selbst am heiligen Schabbat durchgeführt werden kann. Viele andere Gebote, so Holdheim, verdrängten ebenfalls den Schabbat, so der zuvor erwähnte Opferdienst, an dessen Stelle der Gottesdienst getreten sei.  Ist es wirklich das Beschneidungsgebot an und für sich, das den Schabbat verdrängt? Nein, beantwortet Holdheim seine Frage, das Gebot ist es vielmehr, dass sie am achten Tage nach der Geburt vollzogen werde [uvajom haschemini afilu baschabbat], welches in seiner Begegnung mit dem Schabbat denselben verdrängt. Er führt Talmudstellen an, die ihn in seiner Ansicht bestätigen (Schabbat 132b) und kennzeichnet den zuvor genannten Passus aus Nedarim als aggadisch. [27-28]

Dass die Beschneidung unverkürzt in Ansehen und Geltung blieb, hat sie nach Holdheim der Tatsache zu verdanken, dass sie am achttägigen Knaben vorgenommen wird. [32] In den zeitgenössischen Reformkreisen wurde versucht, die Symbolik des achten Tages in die Praxis umzusetzen. In Frankfurt hatte 1843 der Frankfurter Reformpädagoge Joseph Johlson unter einem Pseudonym eine Schrift herausgebracht (Über die Beschneidung in historischer und dogmatischer Hinsicht), die eine Alternative zum traditionellen Ritus vorschlug und auch Mädchen mit einbezog. Er nannte die Zeremonie „Heiligung am achten Tage“. In ihr wurde dem Kind einen Namen gegeben und im israelitischen Bund Gottes willkommen geheißen. 

Hinsichtlich der talmudischen Strafforderung wirft Holdheim seinen Kollegen Inkonsequenz vor. Als Beispiel erwähnt er die Überschreitung der Halbfesttage, die nach dem Ausspruch der ältesten rabbinischen Autoritäten mit der Unterlassung der Beschneidung auf gleicher Stufe der Sündhaftigkeit steht. Wie wenige würden von der gesamten Judenheit übrig bleiben, denen man nicht wegen Entweihung der Halbfesttage nach solchen rabbinischen Schrifterklärungen die Seligkeit absprechen müsste? Inkonsequenz ist für Holdheim auch, sich aus einem System von Grundsätzen und Ansichten, zu dem man sich in seiner Totalität nicht bekennt und nicht bekennen kann und mag einen einzigen Satz zu einem isolierten Gebrauch herauszuheben. [24] Diejenigen, die mit ihrem „Maimonides in der Hand“ auf die Einhaltung der Gesetze pochen, müssten sich doch fragen, ob sie nicht selbst die Verbindlichkeit so manchen Gesetzes, namentlich so vieler unzähliger Gesetze, die mit dem Opferdienst zusammenhängen, als aufgehört betrachten. [59] Wer sich zur strikten Einhaltung eines Gesetzes auf den Talmud beruft, müsse auch zu seiner Gesetzgebung stehen. Diese sieht zum Beispiel 40 Geißelhiebe für die Übertretung nur eines Gebotes vor. Holdheimer gibt seinen Kollegen zu bedenken, wieviel sie zu tun bekämen angesichts ihrer Gemeindemitglieder, die sich nicht mehr an das Gebot der Tefillin, der Zizith und aller anderen auf dem rabbinischen Standpunkt noch geltenden Gebote gebunden fühlten. [73]

Es ist bedauerlich, hält Holdheim den Beschneidungsverfechtern entgegen, dass den Bestrebungen der Opposition niemals die Reinheit und Lauterkeit der Gesinnung, dass sie nämlich von ihrem Standpunkt aus für eine heilige Sache des Glaubens, für eine religiöse Überzeugung kämpfe, zugestanden wird. [59] Besonders seine Reformkollegen klagt Holdheimer an. Um den eigenen Standpunkt zur Beschneidung durchzusetzen, greifen sie auf den Rabbinismus zurück, den sie ansonsten mit einer auf Erkenntnis beruhenden religiösen Gesinnung bekämpften. Unser heutiges Leben weist eine scharfe Konsequenz des Rabbinismus von sich, „da dieses Leben schon in Ideen und Ansichten so tief wurzelt, die den rabbinischen diametral entgegengesetzt sind.“  Alle seine Urteile sind rein richterliche Urteile, geschöpft aus Lebens- und Weltansichten, welche unsere Bildung längst überschritten hat. Das gesetzliche Ansehen und die Macht, die die Rabbinen einst besaßen, hat heute nur der Staat. Es ist daher ein Irrtum, wenn man rabbinischen Urteilen, die zu ihrer Autorität die richterliche Vollmacht in Anspruch nehmen müssen, noch heute eine solche Verbindlichkeit einräumt. Nur die rein religiösen Ansichten der Rabbinen müssen von uns geprüft und gewürdigt werden.  [61-62]

Wir wissen, das Holdheim nicht der einzige Reformrabbiner seiner Zeit war, der eine Alternative dem Akt der Beschneidung vorzog, aber er war vielleicht der mutigste. Bei seiner Übersiedlung nach Berlin als Rabbiner der dortigen Reformgemeinde stieß er auf einen Kreis Juden, die schon zwanzig Jahre vor der offen ausgebrochenen Debatte die Beschneidung als unnötig für den Eintritt in den Bund Israels erachteten. Der Religionslehrer Abraham Behr hatte 1826 in seinem Lehrbuch der mosaischen Religion erklärt, „Dieser nicht einmal mosaische, sondern abrahamitische, ursprünglich ägyptische Brauch ist kein religiöser, sondern ein blos nationaler, der wie die Opfer, die Vielweiberei und anderes nach der Vertreibung der Juden aus Palästina und deren Ausbreitung im Occident hätte aufhören sollen, für diejenigen Juden aber, welche nicht das gelobte Land, sondern das Land, in welchem sie geboren und erzogen, als ihr Vaterland betrachten, alle Haltbarkeit verloren und sich nur noch wie ein Krankheitsstoff von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt hat.“2

Auch in den späteren Jahren in Berlin äußert sich Holdheim gegen die Beschneidung. 1857 hält er in seiner Geschichte der Entstehung und Entwickelung der jüdischen Reformgemeinde in Berlin fest,  „Die Beschneidung ist ein theokratisches Symbol für den theokratischen Bund des Judentums, ein partikularistisches Merkmal für die Stellung des jüdischen Volkes, und hat darum in der idealen, messianischen Sphäre des Judentums, zu welcher die Reform des Judentums zu erheben strebt, keinen Platz.“3

Wer seine Worte als zu radikal empfindet, sei daran erinnert, dass Holdheim am Gebot der Beschneidung festhält. Es ist der ausführende Akt, den er wie sein Kollege Abraham Geiger und einige weniger bekannte Reformrabbiner abgeschafft wissen will. Dem Frankfurter Reformkreis, der sich radikal vom Talmud distanzierte, hat er sich nicht angeschlossen, wohl wissend um die Gefahr des Traditionsverlusts. Aber er hat sich nicht gescheut, Ungereimtheiten und Unklarheiten  im talmudischen Schrifttum zu benennen und einzelnen Argumenten zu widersprechen. Auch Einspruch gehört mit zur Weiterführung lebendiger talmudischer Tradition.

Der Talmud ist das über die Jahrhunderte währende Gespräch der Juden untereinander, wie der bekannte Schriftsteller und Rabbiner Chaim Potok einen seiner Protagonisten sagen lässt. Das lebendige Gespräch endete vor einigen Jahrhunderten. Vielleicht ist es an der Zeit, es im 21. Jahrhundert wieder aufzunehmen - für das 21. Jahrhundert. Samuel Holdheim scheint dafür kein schlechter Wegweiser zu sein.

 

 


 
1    Samuel Holdheim, Über die Beschneidung zunächst in religiös-dogmatischer Beziehung. Schwerin, 1844, S. 1. Die in eckigen Klammern genannten Seitenzahlen  im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

2    Philipson, The Reform Movement in Judaism. 1907, S.ns<200

3    Samuel Holdheim, Geschichte und Entwickelung der jüdischen Reformgemeinde in Berlin. Berlin, 1857, S. 46.