(modifizierter Auszug aus "Einführung in das Pessachfest". Offenes Friedensgebet, Rigal'sche Kapelle, Bonn-Bad Godesberg, 2.4. 2014)


 

Der mythisch Wandernde passiert die Schwelle aus dem Bereich des Bewusstseins in das Unbewusstsein; oder aus dem Leben in den Tod; oder aus der materiellen in die geistige Welt. Die Überschreitenden sind "Hebräer" - nach der Sprachwurzel 'überschreiten'.  

Die gesamte Geschichte des Auszugs mit der anschließenden Wanderung durch die Wüste kann als eine solche mythische Wanderung gesehen werden: Der Ruf an den Mythenhelden ist aus der Geschichte des brennenden Dornbuschs vernehmbar. Er passiert die Schwelle mit dem Durchschreiten des Schilfmeers (hebräisch Jam Suf = Meer des Endes). Im Mittelpunkt der Wanderung, am Nadir des mythischen Zirkels ,steht die Gottesbegegnung am Sinai, und nach 40-jähriger Wüsten-Wanderung stehen die Wandernden am Jordan, der Schwelle  für die Rückkehr in das Leben. Als Besonderheit des biblischen Mythos ist der Held der Erzählung nur in der Gottesbegegnung eine Einzelperson, ansonsten stehen die Hebräer, die Nachkommen Israels, im Plural anstelle des üblicherweise singulären Mythenhelden. Die Haggada, die Erzählung vom Auszug aus der Knechtschaft, berichtet von den Erlebnissen der Vorfahren, betont aber die hohe Bedeutung des Individuums:

 In allen Zeitaltern ist jeder verpflichtet, sich zu betrachten, als ob er gleichsam selbst aus Ägypten gegangen wäre, denn so sagt die Schrift: Du sollst deinem Kinde an jenem Tage erzählen und sagen: Um dessentwillen, was der Ewige mir getan, als ich aus Ägypten ging.

Dieser Mythenkreis lässt sich noch – ähnlich wie die Odyssee - in weitere mythische Kreise aufteilen.  Die Geschichte des hastigen Auszugs mit der Überquerung des Meeres, den vorangegangenen zehn Plagen ist ein solcher innerer Kreis. Er ist das eigentliche Thema des Sederabends. In diesem Kreis (der kleine Kreis in der Abbildung unten) ist die erste Schwelle die Türschwelle, die der Bote Gottes überspringt. Das Wort "Pessach", das dem Frühlingsfest den Namen gab, bedeutet auch ‚Übersprung’.  Der israelitische Mensch, der hinter dieser Schwelle wohnt, stirbt nicht.  Er findet nach der Wanderung im Unbewussten durch Passieren der Schwelle (hier das Schilfmeer, Jam Suf) wieder ins Leben. Was im Meer stirbt, ist seine materielle Welt, die Welt seines Egos, seiner Ängste und Bedrückungen, seiner Abhängigkeiten. Mizrajim, übersetzt "Ägypten", ist verwandt mit "Mezarim", 'Bedrängnisse'.

Die Schwelle ist im Bibeltext (Lev. 23,5) in der Übersetzung nach Buber als das Zwischen erkennbar:

      In der ersten Mondneuung, am Vierzehnten auf die Neuung,
      zwischen den Abendstunden,
      Übersprungsmahl ihm.

 

„Zwischen den Abendstunden (wörtlich: zwei Abenden)“ ist nicht ‚gegen Abend’, wie der Text nach Luther wiedergibt. Ein Zwischen ist der Augenblick zwischen Seiendem und Nichtseiendem, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Zeit und Ewigkeit (> Philosophie des Zwischen).

In der Mitte zwischen oberer und unterer Mazze liegt am Sederabend das Brot, das gebrochen wird. In eine Zweiheit.  In der Einheit kann der Mensch nicht leben. 

(Darum reißt sich die Märchenfigur mit dem unbekannten Namen am Feuer mitten entzwei)