- Eine Märchenfigur und eine wissenschaftliche Studie -
(erschienen in Jüdische Zeitung, Mai 2013)
Die Studie trägt den Namen Defending the Holy Land. Ihr Autor ist Zeev Maoz, Professor für Politische Wissenschaften an der Kalifornischen Universität in Davis und an der Universität Tel Aviv. In früheren Jahren lehrte Maoz auch an der Universität Haifa, am „Jaffa-Zentrum für Strategische Studien“ und am „Kolleg für Nationale Verteidigung“ der israelischen Verteidigungsarmee, IDF. Maoz führte eine kritische Analyse israelischer Sicherheits- und Außenpolitik durch und veröffentlichte sie 2006 unter dem genannten Titel. Sie ist auch 2013, nach den jüngsten Luftangriffen auf Gaza, noch hochaktuell.
Und wer oder was ist Schlamassel? Schlamassel heißt eigentlich Schlimasel, ist jiddisch und bedeutet so viel wie „schlimmes Schicksal“. Schlamassel heißt auch der Held oder besser der Antiheld eines modernen Märchens des Nobelpreisträgers Isaac B. Singer. Der eigentliche Held ist Massel, übersetzt „Glück“. Massel und Schlamassel sind zwei Geister in der gleichnamigen Geschichte und gehen eine Wette ein: Schlamassel wettet, dass er es schafft, in kurzer Zeit alles zu zerstören, was Massel zuvor aufgebaut hat.
Singers Märchen, wenn auch empfehlenswert, lassen wir im Bücherschrank. Lediglich die Figur des Schlamassel soll diesem Buch entlehnt und hier als symbolische Figur der Ursachen missglückter israelisch-politischer Handlungsstrategien verwendet werden. Auf ursächliche Faktoren weist auch Maoz’ Studie hin. Sie war in den Worten des Autors nicht dazu gedacht, Geschichte zu dokumentieren, sondern verschiedene zeitgeschichtliche Episoden – die israelische Seite betreffend - zu evaluieren. Einige dieser Episoden sollen hier für die Vorstellung des Buches herausgegriffen werden. Die daraus wörtlich übernommenen Textstellen werden dabei, übersetzt und kursiv gedruckt, Symbolfiguren in den Mund gelegt. Seitenangaben in Klammern verweisen auf den englischen Originaltext.
Mit den Symbolfiguren des Anklägers und des Schlamassels als Angeklagtem kann sich der Leser mit ein bisschen Phantasie Auszüge aus einer Art fiktiver Gerichtsverhandlung vorstellen. „Zeugen“ werden hier selten benannt, dafür sei auf die zahlreichen Nachweise in Maoz’ Studie verwiesen.
Zum Sinai-Krieg 1956
Ankläger: Wie war es für Israel möglich, diesen Krieg zu führen, obwohl zuvor weite Teile der Bevölkerung und auch Ministerpräsident Sharett gegen einen zweiten Krieg waren?
Schlamassel: Ich half Ben Gurion, Sharett aus dem Amt zu jagen. Nachdem Sharett einmal aus seinem Amtssitz entfernt war, gab es zu der Kriegskoalition in Kabinett und IDF keine innerstaatliche Opposition mehr. [36] Sharetts Beseitigung bereitete den Weg für die geheime Absprache mit Großbritannien und Frankreich. Die Regierung wurde erst eine Woche vor Ausbruch des gesamten Sinai-Unternehmens eingeweiht. Dadurch dass der führende Kopf des moderaten Lagers beiseite geräumt war, konnte Ben Gurion der Unterstützung der Regierung für das Unternehmen ohne Schwierigkeiten sicher sein. [66] Aus heutiger Sicht arbeitete diese zweite Runde schon seit den frühen 50er Jahren in den Köpfen der Hauptakteure der politischen und militärischen Elite in Israel. Das Problem war, den richtigen Zeitpunkt, den Vorwand und die internationale Übereinkunft zu finden, um sie zu verwirklichen. [62]
Ankläger: Mit welchen Tricks und Vorwänden hast du nachgeholfen?
Schlamassel: Durch einen Waffendeal. Nasser half Israel, indem er mit dem ägyptisch-sowjetischen Waffengeschäft von September 1955 den strategischen Vorwand lieferte. Er half auch mit einem diplomatischen Vorwand: der Verstaatlichung des Suezkanals am 26. Juli 1956. Diese ermöglichte die betrügerische Absprache mit Frankreich und Großbritannien. Die Absicht des Krieges wurde in keiner offiziellen israelischen Erklärung abgegeben. Die Absicht war der Sturz Nassers und eine Neuordnung des Nahen Ostens. [36] Die Bedrohung durch wiederholtes feindliches Eindringen und die Blockade israelischer Schiffe waren wohl ernst zu nehmende Probleme, aber sie waren nicht die Hauptursache des Krieges. [74]
Ankläger: Welche weiteren Mittel wandtest du an?
Schlamassel: Was ich immer anwende, ich schüre die Angst. Die Rhetorik von Panik und Verzweiflung, mit denen die Akteure die Medien und die Knesset beschallten, verschaffte die passende Unterstützung der Bevölkerung für die Kriegsoption. [68]
Zum Sechs-Tage-Krieg
Ankläger: Welche deiner Tricks führten zum Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs?
Schlamassel: Provokationen. Zwischen 1965-67 inszenierten die israelischen Verteidigungskräfte IDF zahlreiche Provokationen, darunter auch absichtliche Missachtungen der Demilitarisierten Zonen, DMZ, und des syrischen Gebiets nordöstlich des Sees Genezareth. [103] Das Hauptziel dieser “kontrollierten” Eskalation war, die Syrer zu bewegen, ihre Unterstützung der PLO aufzugeben. [102]
Der Zeuge Moshe Dayan: Das ging so: wir schickten einen Traktor los, um irgendein Gebiet in der Demilitarisierten Zone zu beackern, da wo gar nichts wachsen konnte, und wir wussten schon vorher, dass die Syrer schießen würden. Wenn sie nicht zurückschossen, sagten wir dem Traktorfahrer, er solle weiter in die DMZ hineinfahren, bis die Syrer schließlich durchdrehten und zurückschössen. Und dann konnten wir die Artillerie einsetzen, und später die Luftwaffe. [103]
Ankläger: Die Zahl der Fatah-Infiltrationen aus den Golanhöhen war begrenzt, es gab nur wenige Opfer. Syrien war keine ernsthafte strategische Bedrohung für Israel. Darum gab es keinen Grund zur Abschreckung und nur einen geringen für Drohungen. [110] Wie ist es dir gelungen, die “kontrollierten Eskalationen” entgleisen zu lassen?
Schlamassel: Als sich die israelisch-syrischen Zusammenstöße bis in das Jahr 1967 fortsetzten, beschlossen die IDF, ein schärferes Signal auszusenden. Das Abschießen der sechs syrischen Mig-21 Jets am 7. April war als Abschreckung für die Syrer gedacht gewesen. Die Folgen dieser Aktionen und Erklärungen liefen aber gerade auf das Gegenteil hinaus; sie schalteten nämlich alle roten Lampen in Damaskus an. Die Syrer dachten an einen bevorstehenden israelischen Angriff und gaben ihre Vermutung an die Sowjets weiter. [89] Die Zunahme der provokativen Aktionen war von flammenden Reden der Politiker und Generäle begleitet. Diese Eskalation ließ die Syrer und die Sowjets glauben, die Israelis hätten einen Plan zum Umsturz des syrischen Regimes in Damaskus durch eine groß angelegte militärische Aktion im Sinn. [110] Die Sowjets überbrachten den Ägyptern falsche Informationen über israelische Truppenkonzentrationen.[89]
Ankläger: Falschmeldungen stammen in der Regel von dir. Was bewirkten sie?
Schlamassel: Zum Beispiel die ägyptische Truppenbewegung in den Sinai. IDF-Kommandeure interpretierten diese Bewegung – ganz richtig – als ägyptische Bemühung, im Hinblick auf die sowjetischen Berichte über israelische Truppenkonzentrationen im Norden, Israel abzuschrecken. [89] Israels militärische Abenteuer gegenüber Syrien hatten starke Wechselwirkungen auf die innerstaatliche Schwäche des syrischen Regimes und der innerarabischen politischen Rivalität, die Nasser in die Ekalation trieb. [110]
Ankläger: Es scheint, die IDF Kommandeure waren nicht allzu besorgt über einen ägyptischen Überraschungsangriff [89], - demnach musst du doch noch weitere Mittel verwendet haben, um diesen Krieg zu starten?!
Schlamassel: Gewiss doch, und was ich immer anwende, ich schüre die Angst - oder lasse sie schüren.
Zum Jom-Kippur-Krieg
Ankläger: Klären wir einige Folgen. Welche betrachtest du als die wirkungsreichsten, um nicht zu sagen, die verhängsnisvollsten deines Tuns?
Schlamassel: Die Nuklearstrategie. Nirgendwo waren die Auswirkungen des Krieges so stark empfunden worden wie auf dem Gebiet der Nuklearstrategie.”[104] Israel bestückte seine nuklearen Sprengköpfe bei wenigstens zwei Gelegenheiten während des Krieges: 9. Oktober und 23. Oktober ... es hatte zwei oder drei Dutzend Bomben und rund ein Dutzend nukleare Sprengköpfe auf seinen Jericho-Raketen. Der Krieg führte zu einer bedeutenden Aufrüstung des Atomreaktors in Dimona und zu einer beschleunigten Produktion nuklearer Waffen aller Art. [104] Ursprünglich sollten diese Waffen nur unter den düstersten Umständen verwendet werden. Nach dem Jom-Kippur-Krieg ist es ganz einleuchtend, dass einige Militärplaner begannen, diese Waffen auch als einsatzfähig für begrenzte militärische Waffengänge zu halten, um einer großen Niederlage vorzubeugen. Dieser Ansichtswandel ging fast ganz unbemerkt vor sich, gewiss ohne irgendeine gehaltvolle Debatte oder eine politische Kontrolle.[105]
Ankläger: Es ist von vielen Fehlern in diesem Krieg die Rede. Welches war der größte Fehler, den du auf israelische Verantwortliche übertragen konntest?
Schlamassel: Der größte Fehler war, ihn nicht durch diplomatische Mittel verhindert zu haben. [168]
Ankläger: Mit welchen Mitteln trugst du zur Verschlechterung nach Kriegsende bei?
Schlamassel: Womit ich immer beitrage, ich schüre die Angst; der Krieg vertiefte die israelische Paranoia. [143]
Zum Libanon-Krieg
Ankläger: Kommen wir zum Libanon-Krieg, jenem von 1982 bis 2000, der große Fragen aufwirft. Was waren deine vorrangigen Einsatzmittel für die Durchführung dieses Krieges?
Schlamassel: Manipulation, Lügen, Heimlichkeit, - und das Erwecken alter unrealistischer Träume. Der Libanon-Krieg betraf eigentlich nicht den Libanon. Er war Teil eines großen Plans, der darauf zielte, eine neue Ordnung in den besetzten Gebieten zu schaffen. Er war dazu gedacht, die israelische Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch die Zerschlagung der PLO aufrechtzuerhalten. Der Plan entfaltete sich im Kopf Ariel Sharons und wurde, wenigstens teilweise, von Menachem Begin aufgenommen. Die Sache mit dem Libanon war nichts anderes als ein von zwei Individuen gemachter Krieg. [173]
Ankläger: Was für ein Plan?
Schlamassel: Die Zerschlagung der PLO mit Hilfe der libanesischen christlichen Milizen. Eine Niederlage der PLO im Libanon würde den palästinensischen Traum nach einem eigenen Land im Westjordanland und im Gazastreifen zerschlagen. [182] Dies bedeutete die Wiederbelebung von Ben Gurions altem Traum von einem christlich dominierten, mit Israel verbündetem Staat. [180]
Der Zeuge Moshe Dayan: (wiederholt seine Aussage v. 16.5.1955 ) Alles was dazu benötigt wird, ist, einen Offizier (in der libanesischen Armee) zu finden, oder auch einen Hauptmann, dessen Sympathien zu gewinnen oder ihn auch zu kaufen, damit er sich selber zum Retter der maronitischen Gemeinschaft ausruft. Dann könnten die IDF in den Libanon eindringen, das erforderliche Gebiet besetzen und eine christliche Regierung in Allianz mit Israel aufstellen. Das Gebiet südlich des Flusses Litani wird vollständig von Israel annektiert, und alles wird gut[378]
Ankläger: Was wurde von diesem Plan verwirklicht?
Schlamassel: Bis zum Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs 1974 waren Israels geheimdienstliche Aktivitäten auf typische Zusammenkünfte der Geheimdienste beschränkt gewesen, entweder durch elektronische oder menschliche Träger ... Als der Bürgerkrieg ausbrach, knüpfte der israelische Geheimdienst starke Beziehungen zu den christlichen Milizen. Diese Verbindungen führten zu den typischen Interventionstaktiken: Waffenlieferungen, taktische Beratung, geheimdienstliche Zusammenarbeit, usw. [379] Im November 1981 informierte Sharon den Anführer der christlichen Phalanx, Bashir Gemayel – der gerade seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt gegeben hatte, – dass Israel einen großangelegten Angriff auf die PLO und die syrischen Streitkräfte geplant habe. Kurioserweise weihte diese Botschaft Bashir in eine Sache ein, die vom israelischen Kabinett noch nicht einmal erahnt wurde! Im Januar 1982 machte Sharon einen heimlichen Besuch im Libanon und traf sich mit christlichen Führern ... Der Deal war trügerisch einfach: Israel würde eine militärische Situation herbeischaffen, die es den Christen ermöglichte, West-Beirut zu besetzen und damit die Wahl von Bashir Gemayel zum Präsidenten des Libanon zu erleichtern. [180]
Ankläger: Wie hat das Kabinett dazu gebracht werden können, dem Angriff auf den Libanon seine Zustimmung zu geben? Sogar Hardliner, die den Bedrohungen, die von der Präsenz der PLO im Libanon ausgingen, Bedeutung beimaßen, hielten einen Angriffskrieg für keine gute Lösung. [182]
Schlamassel: Sharon präsentierte diesen Plan als eine “Überwachungsaktion”. Als er gefragt wurde, wie lange diese Aktion dauern würde, antwortete er: 24 Stunden. Zu Begins uns Sharons großem Entsetzen brachte die Abstimmung ein Patt, sieben Minister dafür und sieben Minister dagegen ... aber die große Gelegenheit kam, als am 3. Juni der israelische Botschafter in London, Shlomo Argov von einem palästinensischen Terroristen niedergeschossen wurde ... In einer Kabinettssitzung informierte Avraham Shalom, der Chef des israelischen Geheimdienstes, die Minister, dass der Anschlag durch die Abu Nidal-Organisation ausgeführt worden war. Aber Begin unterbrach Shalom: “sie sind doch alle PLO” und empfahl dann einen groß angelegten Luftangriff gegen PLO-Hauptquartiere in Beirut. In der Kabinettsrunde verstand jeder sofort die Konsequenzen für die Zustimmung zu dieser Aktion. [189] Mit dem Auslösen dieser Attacke öffnete Israel eine Büchse der Pandora, die das Land noch jahrelang heimsuchen würde.[250] Eines meiner Meisterstücke.
Ankläger: Zu den Manipulationen: Libanon ist nicht der einzige Fall. In vielen Fällen war das Ergebnis dieser politischen Manipulationsbemühungen, dass die Feinde schließlich wesentlich extremer und gefährlicher waren als jene, die Israel eigentlich mit dem Manipulationsprozess schwächen wollte. [382] War die Bevölkerung informiert gewesen?
Schlamassel: All diese politischen Aktivitäten begannen als heimliche Bemühungen, die von verschiedenen Nachrichtendiensten ausgingen. Meistens waren diese Manipulationen für das öffentliche Auge unsichtbar. Die meisten Fälle waren nicht Gegenstand einer parlamentarischen Überwachung; erst als sie auf der öffentlichen Agenda erschienen – typischerweise nachdem das Ausmaß der Katastrophe der Öffentlichekeit bekannt wurde. [383]
Ankläger: Welche noch nicht genannten Mittel sind von dir angewendet worden?
Schlamassel: Was ich immer anwende, ich schüre die Angst. Israels zögernde Friedenspolitik war in tiefen psychologischen Problemen, die seine politische Führung und seine Gesellschafft plagten, eingebettet. [555]
Hier endet das fiktive Protokoll. Die “Verhandlungen” dauern bis heute an. Noch ist es nicht gelungen, Schlamassel dingfest zu machen. Seine Taktiken und Strategien, allen voran der Einsatz von Gewalt, haben Israel (und nicht nur Israel) fest im Griff. In Singers Erzählung säuft sich Schlamassel schließlich zu Tode und Massel gewinnt die Wette. Aber es sind Geister. Ohne Mitarbeit der Menschen kommen sie nicht aus.