(erschienen in Jüdische Zeitung, Dez 2013)
Wer wäre nicht schon mit ihr in Berührung gekommen, mit der Geschichte vom Neuen Antisemitismus. Eine verführerische Geschichte, eine gefährliche Geschichte. Sie ist in vieler Munde und arbeitet in vielen Köpfen. Auch die ARD widmete ihr einen Teil ihrer Sendezeit mit der Ausstrahlung des Films „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland“ (Die Story im Ersten, 28.10., 22.45 Uhr).
Dass Antisemitismus gefährlich werden kann, hat die Geschichte gelehrt. In unseren Tagen ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen. Sie tritt immer dann auf, wenn Antisemitismus instrumentalisiert wird und falsche Schlüsse gezogen werden. Erziehung und Aufklärung zu dessen Abwehr und Wachsamkeit sind ohne Zweifel angeraten. Dass weitere gezielte Maßnahmen gegen das Erstarken von Antisemitismus notwendig sind, ist eine richtige Schlussfolgerung, die eine Studie zur Erhebung von Antisemitismus im Auftrag der EU-FRA (Fundamental Rights Agency/ Agentur der Europäischen Union für Grundrechte) aus dem Ergebnis gezogen hat. Wenn aber unseriöse Wächter mit inflationär gebrauchten Warnungen, nicht nachweisbaren Behauptungen und falschen Anschuldigungen öffentlich wirksam werden, wird der vermeintliche Einsatz zum Schutz der Juden leicht in sein Gegenteil verkehrt.
Nach der Studie der EU, deren Ergebnisse am 8. November dieses Jahres veröffentlicht wurden, sind 26% der Befragten (- 5.847 Juden aus neun Mitgliedsstaaten der EU -) im Verlauf des Jahres vor der Befragung verbalen Beleidungen oder Belästigungen ausgesetzt gewesen, weil sie Juden sind. 4% geben an, körperliche Gewalt oder Androhung körperlicher Gewalt erfahren zu haben. 76% sind der Meinung, dass Antisemitismus in den letzten fünf Jahren in ihrem Land zugenommen habe. So weit, so schlimm. Was aber kennzeichnet das Neue, das den zunehmenden Antisemitismus unserer Tage ausmacht? Dazu geben die Befragten der Studie einen interessanten Hinweis. Auf die Frage, ob sie Nichtjuden als antisemitisch betrachten würden, wenn sie den Staat Israel kritisieren, antworteten 34% der Befragten mit „ja“.
Könnte Kritik am Staat Israel mit zu der neuen Form des Antisemitismus gehören? - Es könnte. Der Prozentsatz ihrer Vertreter dürfte allerdings aufgrund uneinheitlicher Definitionen über den Charakter von Antisemitismus und angesichts wachsender Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierungspolitik schwer zu ermitteln sein. Diejenigen, die aus ihrer Sicht berechtigte Kritik an israelischer Unterdrückungspolitik gegenüber den Palästinensern üben, sehen sich mehr und mehr Angriffen von israelfreundlichen Kreisen gegenüber, die jede Kritik an der Politik Israels als antisemitisch abstempeln oder eine antisemitische Motivation suggerieren wollen. Wer aber sind diese Kreise, die jeder Aufklärung über israelisches Fehlverhalten das Wort absprechen wollen? Da fallen zunächst zwei Kreise auf, die untereinander nicht immer klar zu trennen sind. Zu dem einen gehören jene, denen die Erfahrung der Geschichte Angst gelehrt hat. Für sie stellt der Staat Israel einen Sicherheitsanker dar, der nicht angetastet werden darf. Angst stellt sich der Erkenntnis in den Weg, dass mit der Tabuisierung jeglicher Kritik der Staat zu einem Idol wird – zu einem Götzen. Der andere Kreis kann diese Angst als Instrumentarium für seine Propaganda nutzen. In nichtjüdischen Kreisen findet diese Propaganda ihre Opfer leicht bei den Schuldbewussten, den Suchenden, den Faszinierten, den Profilierungssüchtigen.
Diskussionen um den „neuen Antisemitismus“ gibt es weltweit. Warnungen vor einem Ansteigen des „neuen Antisemitismus“ fanden Abdruck in angelsächsischen Publikationen wie The New Anti-Semitism (Phyllis Chesler), Never Again? (Abraham Foxman) oder A New Antisemitism (Paul Iganski/ Barry Kosmin). Allen diesen ist gemein, dass sie Kritik an Israel unter dem gleichen Blickwinkel sehen wie einschlägige antisemitische Vorfälle. Dabei werden Ängste geschürt oder geweckt. Foxman, Vorsitzender der „Anti-Defamation-League, geht so weit zu sagen, “Ich bin davon überzeugt, dass wir bezüglich der Sicherheit des jüdischen Volkes zurzeit einer so großen Gefahr gegenüberstehen wie während der 1930er Jahre – wenn nicht einer noch größeren”.
Doch auch Gegenansichten wurden publiziert. Brian Klug, Professor für Philosophie an der Universität Oxford, veröffentliche 2004 einen Aufsatz in The Nation unter dem Titel „The Myth of the New Anti-Semitism“. Er beklagt die Vermischung von Israelkritik und Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinugnsformen. „Diese Vermischung, verbunden mit einer an McCarthy erinnernden Tendenz, Antisemiten unter jedem Bett zu finden, trägt eher mit zu einem feindlichen Klima gegenüber Juden bei. Das Resultat ist, dass die Sache für diejenigen schlimmer gemacht wird, die man zu schützen beabsichtigte.“
Brian Klug war eingeladen worden, im Rahmen der Tagung “Antisemitismus heute – die Phänomene, die Konflikte” am 8. November im Jüdischen Museum in Berlin zu sprechen. Vortragsthema: “Was meinen wir, wenn wir von Antisemitismus sprechen?”. Die Ankündigung löste Kritik aus. Die Redaktion der Jerusalem Post, mit offener Aufnahmebereitschaft für Meldungen über Antisemitismus in Deutschland, veröffentlichte eine Mitteilung von Clemens Heni an die Redaktion, in der dieser den Hauptreder Brian Klug als “schlechte Wahl” diffamiert. “Experten”, erklärt Heni den Lesern der Jerusalem Post, “sehen 'den neuen Antisemitismus' als Angriffe an, die darauf zielen, Israel zu dämonisieren, zu delegitimieren und mit zweierlei Maß zu messen”. Wer diese “Experten” sind, erklärt er nicht. Auch nicht, wer die Träger des “Berlin International Center for the Study of Antisemitism” sind, dessen Webseite die Einrichtung als Think-tank und einzig ihn selber als Direktor vorstellt.
Antisemitismus war nicht nur ein Schlagwort für die Jerusalem Post. Auch Haaretz veröffentlichte mehrere Beiträge zum Thema “Antisemitismus”, bzw. zu den Kampagnen, die sich diese Erscheinung für ihre Ideologie zu Nutze machen. Für Carlo Strenger zeigt die Kritik an der Wahl Brian Klugs als Hauptredner in der Berliner Antisemitismus-Konferenz, dass viele der gutmeinenden Israelfreunde noch nicht erkannt haben, was für einen unheilvollen Weg sie für die Bekämpfung von Antisemitismus gewählt haben. “Sie vermengen Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus und sie belegen jeden, der mit dieser Politik nicht einverstanden ist, mit diesem Klischee. In anderen Worten: sie verwenden Vorurteile, um Antisemitismus zu bekämpfen.” (Haaretz, 13.11.) Strenger sieht Menschen, insbesondere seine jüdischen Mitmenschen mit der Erfahrung von Unterdrückung, in der Pflicht, gegen Vorurteile, Fremdenhass, Rassismus und Verletzung der Menschenrechte anzugehen, wo immer sie zu finden sind. Aber niemals sollte Antisemitismus mit demselben Mittel bekämpft werden, das es zu bekämpfen gilt: stereotype Vorurteile (ibid).
Auch in der oben angesprochenen Fernsehsendung der ARD wurde Israelkritik mit Israelhass gleichgesetzt. Kritiker israelischer Politik wurden stereotyp und in Erfüllung der drei Ds der israelischen Propaganda - Diffamierung, Delegitimierung und Doppelte Standards - dargestellt. Da wird ein Plakat zum Boykottaufruf israelischer Produkte demonstrativ neben ein Naziplakat mit der Aufschrift „Kauft nicht bei Juden“ gestellt und die Suggestion durch den Sprecher noch zusätzlich verstärkt: „So ist Israelkritik die moderne Möglichkeit, wie sich Judenfeindlichkeit neue Wege bahnen kann: Boykott heute und gestern.“
In ähnlicher Weise rückte die ARD-Sendung die Abgeordnete der Grünen, Kirsten Müller, in ein falsches Licht. In fast peinlicher Vorführung musste sie die Anfrage der Grünen an die Bundesregierung nach Richtlinien zur Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen rechtfertigen, wobei sie und der Zuschauer informiert wurden, dass die NPD eine ähnliche Anfrage eingereicht habe. Auch hier ein manipulativer Kommentar des Sprechers: „Verbraucherschutz als politische Waffe oder doch Antisemitismus?“
Die Liste an Beispielen sprachlicher und bildlicher Manipulation zugunsten der Untermauerung eines „neuen Antisemitismus“ ließe sich fortführen. Da sei noch die Lenkung der Kamera auf den - zweifellos fragwürdigen – Slogan „Kindermörder Israel“ erwähnt. Wenn der Kommentator dabei die mittelalterlichen Ritualmordbeschuldigungen in Erinnerung ruft, die tödlichen Angriffe auf Hunderte von Kindern in Gaza, gegen die sich der Slogan der Demonstration richtete, aber unerwähnt lässt, dann ist die Berichterstattung gefärbt zu nennen und verdient nicht die Bezeichnung „Dokumentation“. Man fragt sich, ob die Verantwortlichen der ARD den anfänglich guten Filmbeitrag zu Ende gesehen und geprüft haben, oder ob sich unter ihnen vielleicht Opfer oder gar Täter falscher Propaganda befinden.
Die beliebige Verwendbarkeit und Austauschbarkeit der Bezeichnungen Israel mit Juden oder Kritik mit Hass, die in den oben genannten Publikationen angesprochen wurde, begleitet auch den hier angesprochenen Teil des ARD-Films bis in die Schlussaussage, die Israelkritik mit „Feindbild Israel“ gleichsetzt. In einem Punkt ist der Reportage allerdings zuzustimmen: Israel wird unverhältnismäßig oft gegenüber anderen Ländern kritisiert. Der von dem Vorsitzenden des Zentralrats, Dieter Grauman, wiedergegebene Eindruck, dass hier eine Schieflage vorherrsche, ist nachvollziehbar, aber nicht gerechtfertigt. Nicht selten kommen Israels Kritiker aus den Reihen früherer Freunde Israels, die durch ihre Besuche in Israel und den Besetzten Gebiete auf Missstände aufmerksam wurden. (Der Sammelband Denk ich an Palätina, herausgegeben von Günter Schenk, legt davon Zeugnis ab). Eine generalisierende Gleichsetzung der Israelkritik mit Antisemitismus ist nicht korrekt.
Ernst zu nehmen ist das Argument, dass diese Gleichsetzung den Juden selber großen Schaden zufügt. Zum einen kann die häufige Erfahrung ungerechtfertigter Antisemitismusvorwürfe eine Tendenz zur Abneigung gegenüber dem Judentum bewirken. Zum anderen wird das zum Schweigen gebrachte Feld der wohlmeinenden Kritiker leicht freigegeben für die wirklichen Feinde Israels. Es entsteht ein Vakuum, das die Gefahr birgt, mit unsachlicher antisemitischer Kritik gefüllt zu werden. Darum ist es wichtig, dass auch Israelfreunde die Stimme gegen Unrecht und Unterdrückung in der Politik Israels erheben. Von der jüdischen Gemeinschaft, auf deren Namen sich die israelischen Regierungen immer wieder beziehen, ist zu hoffen, dass sie ihre Loyalität zu einer Politik der Unterdrückung hinterfragt und die konstruktive Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen zum politischen Vorgehen Israels nicht scheut.
Viele Juden haben die Fatalität israelischer Regierungspolitik längst erkannt. Sie sind weltweit in jüdischen Menschenrechtsorganisationen organisiert. Einigen noch Zweifelnden mag es so gehen wie dem Reisenden in der jüdischen Geschichte, der bei jeder Bahnstation den Kopf aus dem Fenster neigt und stöhnt. Auf die Frage, warum er denn stöhne, antwortet er: „Ach, ich fahre ja ständig in der falschen Richtung.“ Was der jüdischen Religionsgemeinschaft in Deutschland fehlt, sind repräsentative Vertreter einer religiös orientierten Führung, die den Zug der Verirrten aufzuhalten versuchen, wie beispielsweise die „Rabbiner für Menschenrechte“ in Israel oder „T'ruah“ in Amerika; eine Führung, die mutig genug ist, Propaganda und Götzendienst entgegenzutreten und die Notbremse in dem falschen Zug zu ziehen.