(erschienen in Jüdische Zeitung, Jan 2013)
* Der nachfolgende Text basiert auf der Veröffentlichung von Yehoshafat Harkabi, The Bar Kokhba Syndrome. Risk and Realism In International Politics. Rossel Books: NY, 1983.
Bar Kochba ist nicht etwa der Name des Entdeckers eines nach ihm benannten Krankheitsbildes. Das Syndrom kennzeichnet einen ungesunden politischen Zustand, den eine 1982 erschienene Studie unter dem Titel Das Bar Kokhba-Syndrom zu beschreiben versucht.* Autor der Studie war Yehoshafat Harkabi, vormaliger Chef des israelischen Militärnachrichtendienstes und damals Professor für Internationale Beziehungen und Nahoststudien an der Hebräischen Universität. Wer oder was aber ist Bar Kochba?
Bar Kochba, das weiß in Israel „jedes Kind“, war ein Held, - der große Führer eines großen Aufstands. Schon im Kinderlied lernt es den Helden zu verehren:
Wie hat es zu diesem zweiten judäischen Aufstand gegen Rom im Jahre 132 – nur eine Generation nach dem unbarmherzig niedergeschlagenen ersten – kommen können? Überlieferte Zeugnisse zu den Ursachen sind widersprüchlich. Zusammenfassend lassen sie sich in einem Konflikt zwischen der Kultur des Hellenismus und der jüdischen Auffassung von Religion und Staat finden, ähnlich wie beim Aufstand der Makkabäer gegen die griechische Besatzung im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Die Verfolgung der Juden durch die Römer war jedoch geringfügiger als die durch die Griechen. Sie verschlimmerte sich erst als Folge des Aufstands.
Anfängliche Erfolge der Aufständischen brachte ihnen großen Zulauf und weckte bzw. stärkte möglicherweise den Glauben an den gekommenen Messias (ob Bar Kochba sich selber dafür hielt, ist nicht überliefert). Doch der Ausgang nach drei grausamen, zermürbenden Kriegsjahren war verheerend. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung fiel den Kämpfen und dem Hunger als Teil der römischen Kriegsstrategie zum Opfer. Bar Kochba fiel im Kampf und seine letzten Anhänger flüchteten in die judäische Wüste, wo sie ausgehungert und ausgedürstet wurden. Das Gebiet in und um Jerusalem durfte von den überlebenden Juden nicht mehr betreten werden. 580.000 jüdische Rebellen fielen nach Angaben des römischen Geschichtsschreibers Dio Cassius in den Kampfhandlungen. Die Zahl der durch Feuer, Hunger oder Krankheit infolge der Belagerung Umgekommenen dürfte noch höher als die der Gefallenen gewesen sein. 985 Dörfer lagen in Schutt und Asche.
Die Zahlen alleine, auch wenn sie möglicherweise übertrieben sind, können das Ausmaß der judäischen Katastrophe erahnen lassen. Sie können aber nicht die schreckliche Wirklichkeit menschlicher Tragödien vermitteln. Zahlen nennen nicht die Ängste, die Verzweiflung, die Wut, die Trauer, die Traumata. Und sie sparen ein Thema aus, das heute kein Tabuthema mehr ist: Massenvergewaltigungen im Krieg (Römischen Soldaten war es untersagt, während ihrer über 20-jährigen Dienstpflicht zu heiraten!). Über das Schicksal der Frauen sagt der Talmud aus: „Sie nahmen sie in ihre Dienste, vergewaltigten die Töchter, wobei der Befehlshaber der erste sein sollte“ (Jer, Ketuvot 1:28c). Jüdische Frauen wurden in Bordellen untergebracht, nicht wenige begingen Selbstmord, um diesem Schicksal zu entgehen (Gittin 57b). Den Horror des Gemetzels versucht ein talmudischer Erzähler in drastischen Bildern wiederzugeben: „Sieben Jahre lang brauchten die nichtjüdischen Nachbewohner Judäas ihre Felder nicht zu düngen, sie waren mit jüdischem Blut gedüngt ... Sie töteten, bis das Blut unter der Türe herlief, ... bis die Pferde im Blut wateten ... und das Blut floss ins Meer über 40 Meilen“ (Gittin 57a; Jer, Ta'an 4,69a).
Ein kleines Häuflein Überlebender, darunter einige bekannte Rabbinen und ihre Anhänger, die nicht auf den Sklavenmärkten zu Spottpreisen - wegen des Überangebots - feilgeboten wurden, siedelten nach Galiläa über. Die Juden Galiläas waren weitgehend verschont geblieben, sie hatten am Aufstand nicht teilgenommen. Sie hatten somit dem nahöstlichen Judentum zu überleben verholfen. Ein neues Kapitel wurde in Galiläa aufgeschlagen, traditionelles Wissen wurde gesammelt und konserviert.
Es wird der Spekulation überlassen werden müssen, weshalb die Rabbinen in ihren Schriften eine Analyse der Bar Kochba-Rebellion unterließen. Der zweite große Aufstand gegen die Römer scheint mit einem Tabu behaftet, während der erste Aufstand reichlich mit Selbstkritik belegt ist. Waren die Wunden zu groß und zu frisch? War ihnen angesichts rabbinischer Beteiligung am Aufstand unbehaglich zumute? Oder wollten sie den Blick des Volkes ein für allemal von national-messianischem Eifer fernhalten? Letzteres jedenfalls scheint die nachfolgende Generation der Rabbinen zu bestätigen: In einer talmudischen Erzählung mahnt Gott mit Bezug auf fehlgeschlagene Versuche früherer Generationen die Juden, „nicht das messianische Ende herbeizuführen, sich nicht gegen die Völker der Welt zu erheben und nicht in großen Bewegungen nach Israel einzureisen“ (Ket.111a). Jahrhunderte lang wurde die Weisung befolgt (ihr folgen auch heute noch die Anhänger der Neturei Karta Bewegung). Einwanderung nach Israel brach zwar nie vollständig ab, aber sie geschah mit privater, nicht-politischer Motivation. Bis dann der Zionismus in Erscheinung trat und sich in revolutionärer Weise mit kollektiven Aktionen anschickte, die Wege für eine Wiedereinführung nationaler Existenz zu ebnen.
Zur Erreichung seines Ziels musste sich der Zionismus nach Harkabis Ansicht von der depressiven Bürde, die das unverarbeitete Trauma des Bar Kochba-Aufstands hinterließ, befreien. Die neue Nation brauchte einen Helden und fand ihn in dem mutigen Bar Kochba. Das Schweigen der Rabbinen hatte die Entstehung von Bewunderung anstelle kritischer Distanz ermöglicht. Die jüdische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert erleichterte zudem die Verklärung der Bar Kochba-Rebellion mit der Beschreibung eines positiven romantischen Heldentums. Das fast 2000 Jahre alte Joch der Fremdherrschaft und Erniedrigung wurde mit dem Idealbild eines Helden abgeschüttelt.
Harkabis Studie führt die Ironie der Geschichte vor Augen: „Eine Rebellion, die katastrophale Ergebnisse erbrachte, beinahe zur Auslöschung der nationalen Existenz führte, wird plötzlich zu einem Symbol der Wiederbelebung.“ Die Bewunderung Bar Kochbas ist für ihn synonym mit der Bewunderung von Rebellion und Heldentum, losgelöst von jeglicher Verantwortung für die Folgen. Diese Erscheinung nennt Harkabi das Bar Kochba-Syndrom. „Indem wir die Bar Kochba-Rebellion bewundern, verfangen wir Israelis uns in der misslichen Lage, die Zerstörung unseres Volkes zu bewundern und uns an unserem nationalen Suizid zu erfreuen.“
Damit endet Harkabis Studie nicht. Sie will nicht nur Ansichten zu vergangenen Ereignissen korrigieren, sondern die Korrektur als ein Lernmittel für Gegenwart und Zukunft verstanden wissen. Sie soll helfen, zu einem für die Zukunft Israels realistischen Pfad zurückzukehren und befähigen, Vision von Fantasie zu unterscheiden. Vision, die zu Beginn der Staatsgründung noch vorhanden war, vermag Realität zu transzendieren, aber sie bleibt im Boden der Realität verwurzelt. Fantasie hingegen fliegt auf den Flügeln des Truggebilds davon. Die Fantasie hat mit den Errungenschaften 1967 gefährlich zugenommen. „Die mythologische Orientierung an Unrealistischem gewann an neuem Boden. Der nationale Appetit nahm zu.“
Obwohl die israelischen Siedlungen auf besetztem Palästinensergebiet nach Regierungsangaben aus Sicherheitsgründen gebaut wurden, fühlten sich israelische Bürger vor 1967 sicherer. Es gab Ängste, ja, aber „man hatte Vertrauen ins Überleben ohne solch quälende Zweifel, die Israel heute plagen“. Harkabis Beobachtung stammt aus dem Jahr 1982. Dreißig Jahre später ist das Band der Angst enger geworden. Das rapide Absinken Israels auf der internationalen Beliebtheitsskala zugunsten der Palästinenser dürfte die Enge noch spürbarer werden lassen.
Realitätsverlust und fehlende Bereitschaft zur Selbstreflexion als Folge des Bar Kochba-Syndroms verhindert die Erkenntnis des eigenen Anteils an der misslichen Lage – damals wie heute. Anstelle dieser werden bereitstehende Erfahrungswerte eingeschoben: „wir standen immer schon Antisemiten gegenüber“. Als weiteres Merkmal des Syndroms nennt Harkabi die gefährliche Überreaktion auf fremde Provokationen, seien es römische oder arabische. Die Mentalität der Zeloten, d.h., der 'Eiferer', die zum Aufstand aufriefen, findet er in den Siedlern wieder. Für die Zeloten war der Aufstand eine religiöse Pflicht, wie es für die Siedler die Einnahme des Landes darstellt. Beide glauben an die feste Unterstützung Gottes für ihren Eifer. Wie die Zeloten werden auch die Siedler für eine fantasierte Garantie göttlicher Unterstützung möglicherweise heftig unangenehme Konsequenzen herausfordern.
Eine andere Beobachtung des kollektiven Bar Kochba-Syndroms ist für Harkabi die demagogische politische Führung. „Der demagogische Führer primitiviert öffentliches Denken, reduziert Denken auf instinktive Reaktionen. “Primitivisierung der Denkweise, hervorgerufen durch manipulativ geschürte Ängste, Verbergen tatsächlicher Risiken und anderer Propagandamethoden, „hat die mehrheitliche Bevölkerung Israels immun gegen vernünftige Argumentation gemacht.“
Harkabi appelliert an Israelis und Juden in aller Welt, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich vom Bar Kochba-Syndrom zu befreien. Freunde Israels haben die Aufgabe, „unsere Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die wir nicht sehen können oder sehen wollen. Paradoxerweise ist Israels Kurzsichtigkeit, sind Israels Blinde Flecken größer, je größer unsere missliche Lage ist.“
Der Mut des Bar Kochba darf durchaus bewundert werden, aber es ist nicht diese tragische Gestalt aus der jüdischen Geschichte, die Israel heute als Symbolfigur braucht. Zudem bedarf es für ferngesteuertes gezieltes Töten nicht einmal dieses Mutes. Der Prophet Jeremiah wäre der angemessene symbolische Lehrmeister. Die Zahl derer, die mit ihm warnen, wächst. Anders als die Demagogen fürchten sie sich nicht so sehr vor dem Ende einer Ideologie als vor dem Verlust von Menschenleben, die ihr in der absehbaren Katastrophe geopfert werden.