(erschienen in Jüdische Zeitung, Juni 2013)
Aus der Sicht des Kindes? Das Neugeborene sieht nicht, hört nicht, empfindet nicht. Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war diese Meinung weit verbreitet. Dann sprach ein französischer Geburtshelfer zu den zukünftigen Eltern. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern, die nur um ein Thema kreisen: die Psyche des Neugeborenen. Im Folgenden soll aus einem dieser Bücher zitiert werden: Der sanfte Weg ins Leben von Frederick Leboyer.i
Nach eigenen Worten verdankt der „Vater der sanften Geburtsmedizin“, wie Leboyer häufig genannt wird, seine Einsichten der Psychoanalyse: „Geht man in der Psychoanalyse sehr tief, bringt sie einen zurück zur eigenen Geburt. Vorher hatte ich nur Augen für die Frau und ihre Situation, doch als ich in der Psychoanalyse die Ängste meiner eigenen Geburt wieder erlebte, rückte das Kind in mein Blickfeld. Auf einmal sah ich diese wachen Augen voller Angst.“ ii
Psychoanalytiker haben in der jüngsten Debatte wiederholt ihre Bedenken gegen die Beschneidung geäußert. Sie bezeichnen eine verletzende Intervention am Genitalorgan als ein Trauma. Ist dem so?
Der erwachsene beschnittene Mann hat keine Erinnerung an das Erlebnis seiner Beschneidung im Säuglingsalter. Darum meint er als Befürworter des Rituals nicht selten, sein subjektives Empfinden, „mir hat die Beschneidung nicht geschadet“, liefere das beweiskräftige Argument gegen die vorgebrachte Kritik der Kindesschädigung. Und der Säugling selber spricht nicht. Wirklich?
„Passt auf, seht hin“, sagt Leboyer zur Sprache des Neugeborenen: „Diese tragische Stirn, diese geschlossenen Augen, diese erhobenen oder zusammengezogenen Brauen … Dieser brüllende Mund, dieser Kopf, der nach hinten rutscht …Diese ausgestreckten Hände, die betteln und flehen, dann aber in einer Unglücksgebärde zum Kopf geführt werden …Diese zornig strampelnden Füße, diese Beine, die den zarten Bauch schützen möchten …Dieses Fleisch voller Krämpfe, Reflexe, Zuckungen …Es spricht nicht, das Neugeborene? Sein ganzes Wesen schreit, sein ganzer Körper brüllt: „Fasst mich nicht an! Fasst mich nicht an!“ Und gleichzeitig bettelt, ja fleht es: „Verlasst mich nicht! Helft mir doch! Helft mir!“ … Das Neugeborene spricht nicht? Nein, nein. Wir sind es, die nicht zuhören.“ [12/13]
Der Psychotherapeut Matthias Franz sagt zu der „Sprache“ des Säuglings im Akt der Beschneidung, „Bei einem Neugeborenen rast das Herz, es schreit kläglich, zeigt eine schmerzverzerrte Mimik, Stresshormone werden ausgeschüttet. Es sind auch anhaltende Stressfolgen nachweisbar.“ iii
Die hebräische Literatur weiß von einem neugeborenen Kind, das nicht schreit. Im Roman Schweigen von Joshua Sobol beschließt der Protagonist im Alter von acht Tagen, ausgelöst durch den Schock der rituellen Beschneidung, zu schweigen. Im Alter von 80 Jahren blickt er auf sein Leben zurück und ergreift damit erstmals das Wort. Was er spricht, liest sich in der Erzählung wie eine Wiedergabe aus dem Unbewussten: „Unklar ist, ob es Tag oder Nacht ist. (…) Jemand, der auf einem Stuhl sitzt, dessen Rückenlehne gegen die kurze Querseite des großen Tisches zeigt, hält mich zwischen seinen Knien auf einem weißen, weichen Tuch und spreizt mit den Händen meine Beine. Und ich bin nackt, das heißt, ich habe nur ein Hemd mit langen Ärmeln am Körper. Aber vom Bauch an abwärts bin ich nackt. Und vor mir steht der Schächter. Ich sehe seinen Bart, und ich sehe das Messer in seinem Mund. Hinter seinem Rücken drängen sich hochrote Gesichter und äugen auf mich herab. Glotzen. Grinsen. (…) Ich verstehe jedes Wort, das gesagt wird. Sie sprechen über mich. (…) Die Leute um mich herum reagieren mit Entzücken. Und dann geschieht etwas, an das ich mich nicht erinnern und das ich nicht vergessen kann. Der Schächter beugt sich über mich und greift sich das Fleisch zwischen meinen Beinen. Er zieht und zieht irgend etwas wie aus meinem Bauch, und dann zwickt er mich kräftig. Ich will den Mund aufmachen und sagen, er soll mich in Ruhe lassen und mir das nicht antun, aber zu sprechen hat keinen Sinn.“ [17]iv
Sobols Protagonist schreit sein Leid und seine Angst nicht heraus. Er zieht sich schweigend zurück, „ hat niemals jemandem gehört“ und niemand gehört ihm seit dem Tag, an dem sich der Schächter zwischen seine Beine beugte. [24] Eine Trauma-Verarbeitung in einer empathischen Umgebung kann nicht stattfinden und das Bild des „Schächters“ zwischen den gespreizten Beinen kehrt, mit der Heftigkeit der primären Empfindung, immer wieder.
Auch Leboyer erinnert an die Intensität der Sinneserfahrungen kleiner Kinder, deren Privileg darin besteht, „alles tausendmal intensiver zu empfinden als wir“. [8] Der Sinneseindruck der Neugeborenen ist ungefiltert, ungeordnet, total. Die Sinne der Erwachsenen hingegen haben alle Feinheit, alle Sensibilität, verloren. [114] Das gilt insbesondere für den Tastsinn. Die Haut des Neugeborenen verfügt über eine Sensibilität, von der wir uns keine Vorstellung machen können. Durch die Hände spricht man zum Baby, verständigt man sich mit ihm. Berühren ist die Ursprache, sie geht der ‚anderen’ bei weitem voraus. [96] Die starken, warmen und rauen Hände, die sich in Sobols Erzählung am Genitalorgan des Neugeborenen zu schaffen machen, sind nicht die Hände, von denen Leboyer spricht: leicht, und doch schwer vom Gewicht ihrer Zärtlichkeit. Und von ihrer Stille (…) Friedenshände. [106]
„Friedensbund“, ‚Brit Schalom’, heißt eine alternative Zeremonie zur „Brit Mila“, dem ‚Bund der Beschneidung, die vor allem in Nordamerika immer mehr Zulauf erhält, und dies keineswegs nur oder hauptsächlich von säkularen Juden. Es sind Rabbiner und Rabbinerinnen, die im Bewusstsein des Symbolgehalts des biblischen Gebots auf die Gewaltanwendung durch das Skalpell verzichten. Nach jüdischer Tradition ist die Beschneidung nicht gleichzusetzen mit der Aufnahme in den Bund Gottes, sie ist lediglich ein Zeichen dafür, und Zeichen dürfen sich, zumindest nach reformjüdischer Ansicht, in ihrer Ausgestaltung der zeitlichen Entwicklung anpassen.
Im 19. Jahrhunder bezeichnete der Reformrabbiner Abraham Geiger die Beschneidung einen barbarisch blutigen Akt. Aber auch in unserer Zeit, mit der Möglichkeit der Betäubung, bleibt sie ein qualvolles Ritual. Auch nach einer Betäubung, die ohnehin für das Neugeborene einen widernatürlichen Eingriff darstellt, bleibt der Wundschmerz noch tagelang bestehen. Und wie das Unbewusste mit dieser Gewaltanwendung umgeht, ist schwer zu sagen. Sobols Protagonist schöpft aus diesem, wenn er das Beschneidungserlebnis in die Nähe einer Todeserfahrung rückt. Der Beschneider ist in seiner Sprache, die er als 80-jähriger findet, nicht der Mohel, sondern der Schächter. Es ist derjenige, der den Tieren die Kehle durchschneidet.
Der Roman endet mit einer positiven Erfahrung von Todesnähe. Die Marterinstrumente der Beschneidung sind für den sterbenden Vater des Protagonisten die Gerätschaften, mit denen er an das Bett gefesselt ist, die Riemen, die Schläuche, die Nadel. Der Vater bittet wiederholt und inständigst den Sohn, diese zu entfernen. Als der Protagonist nach schweren Konflikten endlich dem Wunsch des Vaters entspricht und die Instrumente der Qual entfernt, findet er zu den ersten eigenen Worten: „Wir sind frei“. Aber er spricht sie nicht aus. Die Vater-Sohn-Identifikation machen Worte überflüssig. Das Ohr an den Mund des Vaters gelegt, vernimmt er das Wort: „schweig“.
Die feierliche, friedliche Stille am Sterbelager des Vaters „unter dem Fenster inmitten blühender Zitrusplantagen“ [332] weckt ein letztes Mal das Bild der Beschneidung. Das friedliche Bild mit der Symbolik des blühenden Lebens hat hier das Bild des „Schächters“ ersetzt. Es ist die gleiche friedlich feierliche Stille, an die Leboyer für die Geburt eines Kindes denkt. Ermöglicht wird sie in beiden Fällen durch die Änderung von Gepflogenheiten. Liebe hat den Wechsel ermöglicht. Ohne sie wäre auch der Bund zweifelhaft.