- Vortragstext (leicht geändert) innerhalb eines öffentlichen "Friedensgebets" am 3.9.2013 (jüdisches Neujahrsfest) in Bonn -
Die Erzählung von der Bindung Isaaks (Genesis 22) - ein Mythos? Diese Ansicht ist nicht ungewöhnlich. Sie gewinnt Unterstützung durch den Vergleich mit dem mythischen Zirkel (> Der Mythische Zirkel). Doch fallen im Vergleich mit diesem auch Besonderheiten auf, die sie von anderen Mythen unterscheiden.
Wenn Abraham der Mythenheld ist, welche Rolle könnte Isaak in der mythischen Erzählung spielen? Könnten beide, Abraham und Isaak Symbolgestalten sein? Wie im Volksmärchen vielleicht?
Im Märchen können Personengestalten verschiedene geistige Entwicklungsstufen des Menschen bedeuten. Vom Vater sagt man beispielsweise, er symbolisiere die gereifte Persönlichkeit; der Sohn, das geistig sich noch entwickelnde Ich des Menschen.
Mythen sind vielschichtig und lassen verschiedene Deutungen zu. Auf der Basis des mythischen Zirkels und anhand des hebräischen Textes soll hier eine Auslegung der Geschichte versucht werden.
An Abraham ergeht ein Ruf: "Avraham", und dieser antwortet mit einem Ausdruck der Geistes-Gegenwart, dem gleichen Ausdruck, mit dem auch biblische Propheten antworteten: "Hinéni", 'da bin ich'. Ein Dialog hat begonnen. "Nimm doch deinen Sohn" - deinen einzigen - den du liebst - den Jizchak, - was ist das für ein Wesen, zu dessen Bestimmung die göttliche Stimme vier Bezeichnungen gebraucht, von denen eine zumindest, nach biblischem Bericht, falsch anmutet: Isaak - der einzige Sohn?
Die Aufforderung "kach-na", 'so nimm doch', ist eine zu zärtliche, um ein Befehl zu sein. Abraham könnte - das heißt, sein Verstand könnte - ihn ablehnen oder zumindest nach dem Grund fragen. Aber wie der Held der mythischen Reise, der die Verstandesebene zugunsten der Bewusstseinserweiterung verlassen hat, kann Abraham nicht anders, als das zu tun, was von ihm erwartet wird: in das Land gehen, das ihm gezeigt werden wird. "Lech l-cha", wird Abraham angewiesen, und das bedeutet in der Übersetzung nicht nur 'gehe', sondern vielmehr 'gehe zu dir (selbst)'. Das Land "Morijah", was auch wörtlich so viel heißen kann wie 'Gott zeigt dir' oder 'Gott lehrt dich', ist demnach keine geographische Dimension. Abraham findet diesen Ort in seinem Innern. Ein "Fest der Er-innerung" wird in der Bibel das Neujahrsfest auch genannt.
Abraham begibt sich wie ein Mythenheld auf den Weg aus der Welt der Vielheit in die der Einheit. Symbolisch wird dieser Weg durch den Aufstieg auf den Berg wiedergegeben, - der Berg, seit altersher ein Symbol der Verbindung zwischen Himmel und Erde. Auch in Zahl und Reihenfolge der Schofartöne (Schofar = [Widder-] Horn), die zum Neujahrsfest ertönen, ist die Symbolik der Vielfalt in der Einheit angesprochen: ein einziger ausgehaltener Ton umrahmt in gleicher Länge jeweils eine Serie unterbrochener Töne - insgesamt hundert Töne.
"Erhöhe ihn" - den Jizchak - "dort zu einer Darhöhung" (Übersetzung nach Buber). Sehen wir Isaak als eine Symbolfigur für das Ich des Menschen an, dann soll dieses Ich auf eine spirituell höhere Stufe gebracht werden, näher zu Gott, - das hebräische Wort for Opfer, "korban", heißt wörtlich 'Darnahung', 'Näher bringen'.
Abraham macht sich auf den Weg zu dem heiligen Ort - "makom", der 'Ort', ist ein traditionelles Synonym für 'Gott'. Abraham geht zusammen mit seinem Sohn und den Symbolträgern der dualistischen Welt: den zwei Knaben und dem gespaltenen Holz auf dem Rücken des Esels.
Am dritten Tag der Wanderung (der "dritte Tag" bezeichnet im Mythos gewöhnlich die Stelle, an der Einheit und Zweiheit zusammen) - den "makom", den 'Ort' aus der Ferne erblickend - trennt sich Abraham von den Symbolfiguren der dualistischen Diesseitswelt. Nicht ganz. Er weist seine beiden Knaben an, mit dem Esel zurückzubleiben und fährt fort: "ich und der Knabe" - der Text verwendet hier für Jizchak das gleiche Wort: Knabe - "wollen dahin gehen" (Bubers Übersetzung "bis drüben gehen" weist noch deutlicher auf ein Grenzerlebnis).
Die zwei, "schnejhem" gehen einheitlich zusammen (das hebräische "zusammen" enthält das Zahlwort "eins"). Dieser Satz wird noch einmal nach dem kurzen Dialog zwischen den beiden wiederholt und bereitet sprachlich das Einheitserleben vor.
Anders als in vielen anderen Mythen verliert sich das Ich nicht in der Vereinigung mit Gott, es findet keine "Unio mystica", keine 'heilige Hochzeit' statt. Isaak wird nicht geopfert, das Ich des Menschen wird nicht aufgegeben, aber es ist durch die Begegnung mit dem Göttlichen ein anderes geworden.
Fast sah es so aus, als hätte dieses Ich geopfert werden müssen - so wie keine Ich-Du-Beziehung in Raum und Zeit bestehen kann, das Feuer würde das Ich verzehren. Wie Martin Buber sagt (Das dialogische Prinzip):
"In bloßer Gegenwart lässt sich nicht leben, sie würde einen aufzehren, wenn da nicht vorgesorgt wäre, dass sie rasch und gründlich überwunden wird."
Der Engel und der Widder stehen in der Geschichte der Bindung schon bereit, damit das Ich in Raum und Zeit leben kann. Abraham kehrt zu den Knaben wieder in seine gegenständliche Alltagswelt zurück. Und er kann - auch der Abraham unserer Tage kann - Zeugnis ablegen von der göttlichen Begegnung. Und er kann, wie ein Mythenheld, mit dem geretteten Ich das Elixier in die Welt tragen. Ein Elixier erwähnt die Isaakgeschichte nicht. Aber was sollte es anderes sein als die Liebe?