Der Rabbi von Bacherach
Die nachfolgende Betrachtung von Heines Fragment ist eine leicht geänderte Fassung des Aufsatzes "Der Held in mehrfacher Gestalt", Heine-Jahrbuch, Düsseldorf, 1996.
Der Rabbi von Bacherach als Held des mythischen Zirkels Inwiefern ergibt sich für den "Rabbi von Bacherach" eine Interpretationsmöglichkeit auf der Basis dieses mythischen Zirkels?
- Zum einen macht er auf eine Parallelität der Symbolik zwischen dem jüdischen und christlichen Heilsereignis aufmerksam, eine Parallelität, die auch Heine in seiner Erzählung anspricht.1
- Zum anderen läßt sich das Schema des mythischen Zirkels auch auf Aufbau und inhaltliche Struktur des Fragments übertragen.
Das Motiv des Schwellenübergangs findet sich im biblischen Pessach-Mythos zweifach: Im Überschreiten der durch Blut und Kreuz gekennzeichneten israelitischen Häuser durch den Todesengel und im Durchwandern des Roten Meeres. Dazwischen liegt das Pessach-Mahl und der eilige Aufbruch.
In biblischer Zeit wurde das Pessach-Lamm als häusliches Mahl verzehrt, nachdem es zuvor im Tempel geschlachtet wurde. Nach der Zerstörung des Tempels wurde das Pessach-Opfer ganz aufgehoben; seine Symbolik ging in die Symbolspeise über.ii Symbolspeise und Opferkult entspringen folglich dem gleichen Beweggrund. Aus dem hebräischen Wort für Opfer, "Korban", wird ersichtlich, daß es sich um eine Darnahung handelt ("karov", 'nahe'). Durch sein Opfer versuchte der Mensch, sich Gott zu nähern und zu einer Vereinigung mit ihm zu gelangen. Die Urbedeutung des Kultmahles ist demnach ein Akt der Vereinigung mit Gott durch die Symbolspeise.iii
Die ursprüngliche Opfer-Bedeutung des Pessach-Mahls wird auch durch die Verwendung des roten Weins als sinnbildliche Übertragung des Blutes angesprochen. Das Blut, "welches als Sitz des Lebens empfunden wurde", brachte "den Menschen in eine sakramentale Vereinigung mit der Gottheit".iv Noch bis in die Spätzeit des Tempels wurde das Blut des Opfertieres auf den Altar gesprengt.v
Die Bedeutung des Blutes liegt auch dem Menschenopfer zugrunde, "indem das der Gottheit applizierte Blut [...], besonders im Falle dringendster Not, das anscheinend gelockerte Band zwischen dem Gott und seinen Verehrern wieder festigen sollte".vi In diesem Sinn - und für Heines Wahl als Lesung in der Synagoge (129)vii aufschlußreich - kann auch die geforderte Opferung Isaaks mit dem ursprünglichen Beweggrund der Kommunion erklärt werden.viii Der dem Pessach-Ereignis zugrundeliegende "mythische Zirkel" könnte demnach folgendermaßen dargestellt werden:
Wie ist nun der mythische Zirkel auf Heines Erzählung zu übertragen?
Der Held des mystischen Reiseerlebnisses ist keine bestimmte, sich durch die gesamte Erzählung allein bewegende Figur. Als "Heros" dient zunächst das jüdische "Urpaar" Abraham und Sara in der Verkörperung einer geistig-seelischen Einheit. Abraham wird durch die beiden "Herolde", die plötzlich auftauchenden Fremden, zu seinem geistigen Abenteuer aufgefordert. Rabbi Abraham verläßt in Eile, aber ohne Panik, seine Gemeinde. Eine sich bis zur Todesangst steigernde Angst durchlebt Sara als der seelische Anteil des Urpaars.
Der die Bewußtseinsgrenze Überschreitende läßt Kräfte des Verstandes zurück. Ein Schuldbewußtsein kann sich für den folgsamen Rabbi Abraham als Überschreitender nicht einstellen. Die Interpretation, die diese Übertragung in einen übersinnlichen Bereich nicht nachvollzieht, gelangt zu einer negativen Kritik oder steht, zumindest hinsichtlich des moralischen Erklärungsanspruchs, hilflos da.ix
Nur Grubacic spricht das transzendierende Motiv in der Erzählung an:
Das Geschehen spielt sich sozusagen über der menschlichen Aktivität ab, ungeregelt von menschlich-logischem, rationalem Eingriff, wie im mittelalterlichen Mysterium, überdimensionalisiert in den in mehreren Planen sich aufbauenden Bildern und Visionen Saras. Das tragische Vorkommnis, so sahen wir, wird dabei ebensowenig motiviert und formal-konventionell-gesellschaftlich eingerahmt wie der Entschluß des Rabbi, seine Gemeinde zu verlassen.x
Grubacic erkennt die Akzentuierung von symbolischen Zeitspannen in der Erzählung, "so daß sich eine absolut realistische Geschichtsschreibung verbietet".xi
Das Symbol für die zu überquerende Schwelle des Bewußtseins ist zweifellos der Rhein. Als Helfer dient der "stumme Wilhelm". Heine läßt ihn den Kahn hinauffahren, dabei "schoß" der Kahn "durch den Binger Strudel" (120). Auch hier ergäbe sich bei einer realistisch-kritischen Beurteilung ein unerklärbarer Widerspruch, daneben kann die Wortwahl auf ein mystisches Geschehen hinweisen.xii
Bei Überquerung der Bewußtseinsgrenze treten visionäre Kräfte in den Vordergrund. Die visionäre Schau erfährt Sara als das seelische Ich des Protagonisten: "Es war, als murmelte der Rhein die Melodien der Agade, und die Bilder derselben stiegen daraus hervor, lebensgroß und verzerrt, tolle Bilder ..." (120). Es sind Bilder aus der Welt des Zwischen: die Enge der Berge, die Mondbeleuchtung, die flinken Zwerge...xiii
Bei Fortführung seines Weges erwartet den mystisch Reisenden nach Campbell die "mystische Hochzeit". Saras Visionen zeigen als Abschluß eine Öffnung des Raumes ins Unendliche. "Über der so intensiv erlebten Nichtigkeit des menschlichen Seins öffnet sich [...] die träumerisch erfahrene Entgrenzung des Ich in den Rausch und die Einheit der Unio mystica."xiv
Da vollzog sich plötzlich das einddringliche Dunkel und Grausen, der dunkle Vorhang ward vom Himmel fortgerissen, es zeigte sich oben die heilige Stadt Jerusalem mit ihren Türen und Toren; in goldener Pracht leuchtete der Tempel. (120)
Das Bild des himmlischen Jerusalem wird auf die Stadt Frankfurt übertragen:
Als die schöne Sara die Augen aufschlug, war sie fast geblendet von den Strahlen der Sonne. Die hohen Türme einer großen Stadt erhoben sich. (121)
Aus Sara sind "Grauen und Entsetzen der vorigen Nacht" entschwunden. Sie fühlt sich "durchdrungen von freudiger Sicherheit". (121) In der turbulenten Stadt hebt sich über dem "lustigen Gewühl" (121), der Ostermesse (122), der Anwesenheit des Königs und der verschiedenen Stände (123) das sexuelle Motiv mit den Freudenmädchen ab.xv
Mit geschlossenen Augen, durch ein Labyrinth (129) wird Sara in eine neue bildliche Ebene geführt. An dieser Stelle kann deutlich werden, daß der mythische Reisezirkel noch in weitere interne Zirkel aufgegliedert werden kann. Auch dieses Phänomen, die Aufzeichnung mehrerer interner Zyklen innerhalb eines äußeren Gesamtzyklus, beschreibt Campbell:
Viele Sagen verbreiten sich über ein oder zwei isolierte typische Elemente des Gesamtzyklus [...], andere verbinden eine Anzahl heterogener Zyklen zu einer Reihe, wie etwa die Odyssee.xvi
Auch in Heines "Odyssee" sind mehrere heterogene Zyklen zu einem Kreis vereinigt. Die strukturelle Aufgliederung der Erzählung als Mythos kann folgendermaßen dargestellt werden:
Zur Erläuterung eines internen Zirkels soll der Weg von Sara und Abraham in Kapitel II weiter verfolgt werden. Die beiden erreichen jenen "unbewohnten wirren Platz, der das neue Judenquartier von der übrigen Stadt trennte". (125) Dieser Zwischen-Raum ist reich mit Symbolik gefüllt. Seine Tore und Mauern werden (wie die von Bacherach) "zum räumlichen Punkt, wo sich die Krise, der radikale Wechsel, die Schicksalswende vollzieht, wo Entschlüsse fallen, wo die Grenze zwischen den Welten überschritten wird, wo sich die Erneuerung (Frankfurt) oder der Untergang (Bacherach) abspielt".xvii Das Gespräch der Türhüterepisode kann als retardierender Schwellendialog bezeichnet werden.xviii Die Hüter des Gettotores wurden von jüdischen Bewohnern gestellt. Nur in Krisenzeiten gab es laut Heines historischer Quelle christliche Wächter.xix Heine läßt den Schwellendialog von Juden und Christen führen. Die Schlüssel (127), die Amidah (127)xx, das Alleinsein (127) oder die Leere (129) können Hinweise darstellen für das nahende Einheitserlebnis.
Mit der Ankündigung der "Opferung Isaaks" sieht sich "Jäkel der Narr" aufgefordert, das "Lied vom Böcklein", 'Chad Gadja'xxi zu singen. Wenn Heine es "jenseits der Schwelle" von einem Narr singen läßt (- dem in der Literatur Weisheit zugesprochen wird -), wird er kaum angenommen haben, daß es zwecks Unterhaltung der Kinder in die Haggada aufgenommen worden sei, wie vielfach von dem Lied behauptet wird.xxii Es ist naheliegender, daß Heines Intention für die Einbeziehung des Liedes in seine Erzählung den Meinungen entspricht, die eine messianische Motivierung im Lied sehen.xxiii Zu vermuten ist, daß Heine die prophetische Schau des mystisch Reisenden Jäkel dem Narr in den Mund legte.
In der Synagoge empfindet Sara "ein frommes Behagen" (133); sie ist bewegt von jenem Buch, das Heine die kinderlose Sara als Kind-Metapher erleben läßt. Heine beschreibt die Tora als ein Kind, "um dessentwillen man große Schmerzen erlitten und das man nur desto mehr liebt". (133) Der Vorsänger
drückte es an seine Brust, und durchschauert von solcher Rührung, erhub er seine Stimme zu einem so jauchzend frommen Dankliede, daß es der schönen Sara bedünkte, als ob die Säulen der heiligen Lade zu blühen begönnen und die wunderbaren Blumen und Blätter der Kapitäler immer höher hinauswüchsen und die Töne des Diskanten sich in lauter Nachtigallen verwandelten und die Wölbung der Synagoge gesprengt würde von den gewaltigen Tönen des Bassisten und die Freudigkeit Gottes herabströmte aus dem blauen Himmel. [...] Auf der erwähnten Bühne zog man von dem heiligen Buche das samtne Mäntelchen sowie auch die mit bunten Buchstaben beschriebenen Windeln, womit es umwickelt war, und aus der geöffneten Pergamentrolle [...] las der Vorsänger die erbauliche Geschichte von der Versuchung Abrahams.(133)
Dieser Darnahungsszene folgt ein unruhiges Stadium auf der oberen Abteilung. Die durchaus übliche Unruhe in der "Abteilung der Weiber" (132) läßt Heine durch beschleunigenden Erzählstrom nacherleben, bis daß der Held der Reise (Sara als Seelen-Ich) die Schwelle erreicht hat. Der Erzählstrom ebbt jäh ab, das Todeserlebnis steht im erzählerischen Raum.
Als mythischer Zirkel läßt sich das zweite Kapitel folgendermaßen darstellen:
Es stellt sich nun die Frage, wie die Eingliederung des dritten Kapitels in den Reisezyklus zu verstehen ist. Das dritte Kapitel ist unvollständig. Über die Rückkehr ins Diesseits der Schwelle berichtet Heine nicht mehr.
Im Reisezyklus ist der Ort der Rückkehr nicht notwendigerweise mit dem Herkunftsort identisch. Als mögliche Reisestation nach Frankfurt wird häufig Amerika genannt und Heines Aussage an Moser zur Begründung herangezogen: "Interessant ist es, daß dasselbe Jahr, wo sie vertrieben worden, das neue Land der Glaubensfreiheit, nemlich Amerika entdeckt worden." (HSA 167-178)
Eine Verlegung des Schauplatzes nach Amerika könnte der Übernahme des Pessach-Motivs gedient haben: Die Befreiung aus der Bedrängnis, die Gewinnung der Freiheit. Auch Rose hält es für möglich, "daß jene Geschichte des Volkes Israel von seinem Auszug aus der Sklaverei in Ägypten bis zur Gewinnung der Freiheit im neuen Staat der Handlung des Romans als Prototyp gedient hat. [...] Es ist tatsächlich die Geschichte des Vorübergehens und der Auswanderung, wie sie in der Haggada dargestellt sind".xxiv
Ob nun die "Amerika-These" aufrechtgehalten werden soll oder nicht, am Schauplatz "Spanien" kommt der Verfolger von Heines Reisezyklus nicht vorbei. Wie bekannt, betrieb Heine über die spanischen Juden, insbesondere über die Familien Abravanel, intensives Quellenstudium. Vor Abbruch seines Werkes verfügte er über eine Materialsammlung, aus der er einen Prototyp für die Fortsetzung seines Werkes hätte schaffen können. Doch über eine Konzeptstufe kam das dritte Kapitel in der ersten Entstehungsphase nicht hinaus.xxv Wie das Konzept ausgesehen haben könnte, bleibt der Spekulation vorbehalten.
Das Diagramm hält die Reisestationen fest:
An der Grenze endet das Fragment. Die Schwelle wird vom mythisch Reisenden nicht überschritten. Der "Kampf an der Schwelle" scheint mit dem Prozeß der Identitätsfindung verknüpft zu sein. Als Heros des dritten Kapitels taucht Don Isaak auf. Sara, als Symbolfigur des Seelischen, lenkt seine Aufmerksamkeit auf das "Haus Israel" (140). Die Frage der Zugehörigkeit zu diesem Haus ist wesentlicher Inhalt der Identitätskrise.
Verglichen mit der dramatischen Entwicklung des Heros im ersten und zweiten Kapitel ist die des dritten nur schwach ausgemalt. Die schwache, zur Stagnation neigende Entwicklung kann zwei Ursachen haben. Campbell bezeichnet die zweite Überquerung der Schwelle als die schwierigste Phase. "Die Seligkeit des tiefen Abgrunds nämlich wird nicht so leicht zugunsten der Erschütterung des wahren Zustands preisgegeben."xxvi
Ein weiterer Grund ist in der erst mit großem Abstand erfolgten Niederschrift zu finden. Die Anwendung des mythischen Zirkels unterstützt die These von einer späteren Abfassung des dritten Kapitels.xxvii Während die ersten beiden Kapitel intuitiv-entwickelnd geschrieben wurden (wie auch aus den Briefen an Moser beobachtet werden kannxxviii), folglich auch die Stationen der Reise unmittelbar, aus der Gegenwart heraus ("metaxynal") dargelegt werden, erfolgt die Beschreibung des dritten Kapitels retrospektiv. Grenzfluß für die Überschreitung im dritten Kapitel war der Tajo. Vor der Gefahr des Ertrinkens wurde Don Isaak durch Rabbi Abraham bewahrt.
Daß Don Isaak Abarbanel "unverkennbar eigene Züge Heines trägt",xxix darüber sind sich die Interpreten unter Berufung auf die Moser-Korrespondenzxxx weitgehend einig. Kiba sieht sowohl in Don Isaak als auch in Rabbi Abraham die Biographie Heines sich widerspiegeln. Die "Antinomie der Lebensrichtungen"xxxi erlaubt es Heine, die Romanfiguren Abraham und Isaak gleichzeitig als "Heros" fungieren zu lassen, wobei Abraham die geistige Dominante, Isaak die Ich-Verkörperung des Heros darstellen.
Die Handlungsbeschreibung des Reisenden gewinnt ihre Unmittelbarkeit zurück, je näher sie in den Bereich der Initiation rückt, für die sowohl die "Versöhnung mit dem Vater" (Abraham-Isaak)xxxii, als auch die "Darnahung" mit der zu erwartenden Mahlzeit, "womit man die Toten erwecken kann", stehen mag.
Das "Vater-Sohn-Motiv" kann aus dem Studium der Abravanel-Familie entstanden sein. "Verlust und Wiederfindung" sind biographische Kennzeichen der Drei-Generationen-Familie (Isaac-Jehuda-Isaac). Auch Heimatlosigkeit und Grenzstellung zwischen jüdischer und christlicher Gedankenwelt machen die Familie interessant für eine motivfigürliche Übertragung
Im Diagramm spiegelt sich die Interpretation des dritten Kapitels folgendermaßen wider:
Den Rahmen der Fiktion sprengt das Autobiographische.xxxiii Es ist anzunehmen, daß die oben angesprochene Identitätskrise Heines eigene reflektiert. Die überaus reiche, sich gegenüberstehende Symbolik aus den Bereichen des Judentums und des Christentums läßt auf eine innere Auseinandersetzung des Helden mit den Religionen schließen. Doch verrät die apologetische, ermahnende Haltung, daß diese Auseinandersetzung längere Zeit zurückliegt. "Nur wer wie der Löwe fühlt, kann seine Schwäche begreifen" (141). Der Löwe, das Symbol des Stammes Juda, hat sich in das Wassertier "verkappt", hebt die Anklage allegorisch an (141). Aus dem Element des Wassers, dem Symbol der Taufe, wurde der Ich-Held von seinem geistigen Patron, Rabbi Abraham, gezogen. Die Schwellenüberschreitung, die Rettung aus dem Wasser, hätte für den Helden die Heimkehr ins Judentums bedeuten können, aber "es fehlte ihm die rechte Sauce"(142). Weder auf der "Burg Sion"(142) noch im Christentum sah der Schöpfer des Heros eine geistige Heimat.
Aus dieser Zwischen-Stellung heraus sind einst das erste und zweite Kapitel geschaffen worden. Kreativ-entwickelnd entstand der Held im Gegensatz zur resumierenden Aufzeichnung des Prototypen aus dem dritten Kapitel. Die Stimmung Heines um 1840 ist eine andere als in den zwanziger Jahren.xxxiv Er kann darum seinen neuen Helden warnen lassen:
Aber hüte dich, Don Isaak, du bist nicht geschaffen für das Element des Krokodils. Das Wasser - (du weißt wohl, wovon ich rede) - ist dein Unglück, und du wirst untergehen. (141)
Durch den Konflikt hindurch spricht die Liebe zum Judentum, die Sehnsucht nach zukünftiger Entfaltung jüdischen Geisteslebens. Die Metapher des Abendsterns, der "sich im blauen Strome goldfunkelnd abspiegelt..."(142) ist sicherlich nicht nur als Ausdruck der Romantik zu verstehen. Sie könnte in dem Bereich des Zwischen entstanden sein, dem der heimatlose Autor die Sicht in die Zukunft verdankt. In dem Bereich des Zwischen, in dieser "Schwellenposition"xxxv endet "Der Rabbi von Bacherach". Die Vision des Dichters ist das gemeinsame Mahl: der Getaufte nimmt an der jüdischen Tischgemeinschaft teil.xxxvi
Mit Hilfe des mythischen Zirkels ist deutlich geworden, daß Heine nicht nur ein Pessach-Ereignis beschrieben hat. Mit den Mitteln des Dichters, wie Form, Motiv und Bilderwahl hat Heine selber ein Pessach-Ereignis aufgezeichnet; (: das gesamte Fragment als Pessach-Ereignis). Auch die verschiedenen Dimensionen der biblischen Pessach-Erzählung finden sich in Heines Fragment wieder: die historische, die heilsgeschichtliche und die individualpsychologische. Den "Rabbi von Bacherach" wollte Heine als Quelle "für die Zunzen aller Jahrhunderte"xxxvii verstanden wissen. Die Schöpfung einer über die Zeitdimension hinausgehende und in der Zeit noch fortlaufenden Quelle ist ihm gelungen.
i (z.B. mit den Osterbroten) s. hierzu Schalom Ben-Chorin Narrative Theologie des Judentums anhand der Pessach-Hagada, Jerusalemer Vorlesungen. Tübingen 1985, S. 131.
iiNarrative Theologie [3]., S. 30 u. 90.
iiiJüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in 4 Bänden. Königstein 1982, repr., Bd. III, S. 19.
ivJüdisches Lexikon [5].
vJüdisches Lexikon [5]. Möglicherweise hat sich eine Reminiszenz in der Sitte erhalten, Weintropfen zu versprengen. Die Annahme ist spekulativ und in der Literatur nicht bezeugt. Die Sitte des Versprengens vollzieht auch R. Abraham "mit krampfhaft sprudelnder Lustigkeit" (21).
viJüdisches Lexikon [5], S. 20.
viiDie Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Band V der DHA.
viiiJüdisches Lexikon [5], S. 20.
ix"daß der Rabbi [...] auf schändlichste Weise seine Schafe verläßt [...] ist ganz unerklärlich" (M. Bienenstock: Das jüdische Element in Heines Werken. Leipzig 1910, S. 193).
- "It is not credible that a Rabbi would have deserted his flock" (William Rose: Heinrich Heine. Two Studies of his Thougt and Feeling. Oxford 1956, S. 113).
- "Als Roman-Versuch betrachtet ist 'Der Rabbi von Bacherach' mißlungen... Der Konflikt, der hier verborgen liegt, wird durch Heine nicht einmal angedeutet: daß der Rabbi sich durch die Flucht an seiner Gemeinde schuldig gemacht hat." (Wolfgang Hädecke: Heinrich Heine. Eine Biografie. München 1985, S. 358).
- "Was schließlich seine Flucht aus Bacherach angeht, so gibt es für diesen Verrat an der eigenen Gemeinde keine Ausrede noch Entschuldigung" (Hiroshi Kiba und Kingo Kimoto: Die Quellen von Heines Rabbi von Bacherach. Zum Textvergleich, Kenzo, Kazuko: Heine Studien. Tokio 1980. Bd. III, S. 281); "Das Rätsel der 'befremdenden Verantwortungslosigkeit' ist kaum zu erklären" (Hartmut Kircher: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973, S. 220).
xSlobodan Grubacic: Der Rabbi von Bacherach. In: Heines Erzählprosa. Versuch einer Analyse. Stuttgart, Berlin 1975, S. 128.
xiHeines Erzählprosa [12], S. 117.
xiiDie Sekundärliteratur übersieht den Widerspruch gerne und läßt den Kahn rheinabwärts fahren, was geographisch nicht möglich ist.
xiiivon Interesse ist ein Vergleich mit den Ausführungen Manfred Windfuhrs, DHA V, 542-544.
xivHeines Erzählprosa [12], S. 120.
xvAuch im synagogalen Gottesdienst wird die Vereinigungssymbolik mit sexuellen Motiven durch das Verlesen des Hohen Liedes angesprochen, doch liegt dieser Gottesdienst (Shabbat Chol ha-moed) außerhalb des zeitlichen Ablaufs der Erzählung.
xviDer Heros [1], S. 238.
xviiHeines Erzählprosa [12], S. 123.
xviiiHeines Erzählprosa [12], S. 123.
xixDHA 565.
xxDie "dreimaligen Worte Heilig" (55) werden in der Amidah, dem Achtzehn-Gebet bei der Wiederholung durch den Vorbeter nach der zweiten Benediktion gebetet. Sie betrifft die Wiederbelebung der Toten. Sidur Sefat Emet. Basel 1978, S. 41. In einer ursprünglichen Fassung tauscht Heine die "Achtzehn" aus dem Achtzehngebet durch die symbolträchtige Zahl "Vierundzwanzig" aus. DHA 527.
xxigesungen am zweiten Seder-Abend bzw. gegen Ende des Seder-Abends; gedruckt zu finden am Ende jeder Pessach-Hagadah; in der Ausgabe von M. Lehmann (Hrsg.):, Hagadah schel Peßach. Basel 1962, S. 206-211.
xxiiEncyclopedia Judaica. Jerusalem 1981, S. 1050; Jakob J. Petuchowski: Feiertage des Herrn. Die Welt der jüdischen Feste und Bräuche. Freiburg, Basel 1984, S. 34.
xxiiiHagadah [23], S. 211; Narrative Theologie [3], S. 129.
xxivTwo Studies [11], S. 40.
xxvvgl. DHA 574-593.
xxviDer Heros [1], S. 200.
xxviizur Entstehungsgeschichte s. Franz Finke: Zur Datierung des Rabbi von Bacherach, Helmut Koopmann (Edr),: Heinrich Heine. Darmstadt 1975; DHA 498 ff.
xxviii25.10.24; 1.4.25; 1.7.25; u.a..
xxixHeines Erzählprosa [12], S. 127.
xxx15.12.25; Briefe I, S. 228.
xxxiDie Quellen [11], S. 181 (Kiba verwendet den Ausdruck in anderem Zusammenhang).
xxxiiHier läge auch eine Erklärungsmöglichkeit für die Auswahl des Namens. Die historische Parallele für den zum Christentum Übergetretenen dürfte Heine eher in Samuel Abarbanel gesehen haben. Zu Heines Verwendung der Abarbanels s. Lion Feuchtwanger: Heinrich Heines "Rabbi von Bacherach", Frankfurt 1987, repr., S. 96,97.
xxxiiiDie Quellen [11], S. 282.
xxxivvgl. DHA 591/592.
xxxvHeines Erzählprosa [12], S. 131.
xxxviSie spricht auch aus anderen Werken Heines, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Hingewiesen sei lediglich auf die Vision vom "Sturz des Christentums", die er in einem Brief an Wohlwill anspricht (1.4.23; Briefe I, S. 62/63).
xxxviiHSA 203-206. Leopold Zunz, dem Heine viele Anregungen und Hinweise über die spanischen Juden verdankt, verwaltete die Bibliothek des "Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden", dem auch Heine angehörte. Die Mitglieder des Vereins hatten sich die Regel aufgestellt, je ein Exemplar ihrer literarischen Werke der Vereinsbibliothek zu vermachen.